30. Dezember 2010
Singapur liest
6. Dezember 2010
Hochhausdschungel im Tropenparadies
Singapur hört nicht auf zu bauen. Doch es bleibt grün. Eine umsichtige Bauverwaltung sorgt dafür, dass nicht alles regellos zugebaut wird. Die Fußgängerbrücken über die Hauptverkehrstraßen sind mit Bougainvillea bepflanzt, auf den Mittelstreifen wachsen Palmen und blühende Sträucher. Selbst die HDBs, die Hunderte von staatlich geförderten Hochhaussiedlungen, in denen die Mehrzahl der Singapuris wohnt, sind in Grünanlagen eingebettet. So bewahrt sich diese Enklave, die kaum in die Breite, nur in die Höhe wachsen kann und wie der Punkt unter dem Ausrufezeichen der malaiischen Halbinsel wirkt, ein menschliches Antlitz. Dazu trägt auch die ethnische Mischung bei. Chinesinnen im westlichen Büro-Outfit, das i-Phone in der Hand, sitzen in Bus und U-Bahn neben verschleierten, muslimischen Malaiinnen, die ebenso gebannt auf das Display ihres Mobiltelefons starren und neben Inderinnen im wunderschönen, goldbestickten Sari.
5. Dezember 2010
Simbabwe, zum Verzweifeln
Ein Freund nimmt mich mit in den Presseclub. Peter Godwin, Journalist und Buchutor, stellt dort sein neues Buch The Fear vor (London: Picanor 2010). Es geht um Simbabwe und die letzten Jahren von Robert Mugabes brutalem Kampf um den Machterhalt. Peter Godwin kennt das Land seiner Kindheit und Jugend wie Wenige. In den Kindheitserinnerungen Mukiwa und vor allem in When a Crocodile Eats the Sun über das Leben seiner Eltern in Afrika, lässt er uns teilhaben am Weg Simbabwes von der Kolonialherrschaft über die Befreiung bis zum Niedergang. Und er lässt uns seine tiefe Liebe zu Simbabwe spüren.
So auch in The Fear. Um so schrecklicher sind die Ereignisse, von denen er berichtet. Immer in Gefahr, mundtot gemacht zu werden, hat er 2008 Simbawe bis in die hintersten Winkel bereist, mit hunderten von Menschen gesprochen, sich nicht gescheut, dem allgegenwärtigen Schrecken ins Auge zu sehen. So ist ein bewegender Augenzeugenbericht entstanden, von der unfassbaren Brutalität mit der Robert Mugabe mit seinen Hilfstruppen seine eigenen Landsleute einsperren, foltern, verstümmeln, vergewaltigen und umbringen lässt. Der leiseste Anschein, in den letzten Wahlen für die Oppositionspartei, die inzwischen den Ministerpräsidenten stellt, gestimmt zu haben, genügt. Derweil ist die einstige Kornkammer Afrikas so ausgeplündert und heruntergewirtschaftet, dass es an den simpelsten Dingen fehlt. Allein in Südafrika gibt es drei Millionen simbabwische Flüchtlinge.
Wer mehr über Simbabwe im 23. Jahr des greisen Diktators wissen oder helfen will, die Not der Menschen zu lindern, sei auf Peter Godwins Internetseite verwiesen: www.petergodwin.com
I don´t cry for Argentina
Da ist vieles Gewinnende und manches Irritierende an Argentinien und den Argentiniern. Buenos Aires' pulsierendes Kulturleben gepaart mit der Schönheit landschaftlicher Highlights, wie Iguazu-Wasserfälle, Gletscher und Andenhöhen ergeben ein kontrastreiches Kaleidoskop von Eindrücken. Dagegen sind die Neigung der Argentinier, in der Vergangenheit zu leben, zwischen Klage über die gegenwärtigen Zustände und Selbstüberschätzung zu schwanken, der Mangel an common sense, nicht nur in der Politik, das Ausmaß von bürokratischer Gängelung des Bürgers und von korrupter Ineffizienz weniger einnehmend.
Nein, weinen werde ich nicht über Argentinien, aber drei spannende Jahre waren es dennoch, auch in den Nachbarländern, von der kleinen Schwester Uruguay, einen Katzensprung über den Rio de La Plata hinweg, über den in Argentinien mit gemischten Gefühlen beobachteten Giganten Brasilien bis zum großartigen Peru, zum geschichtsträchtigen Mexiko und zum stillen Paraguay, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint.
Adiós Südamerika.
27. Oktober 2010
Totenstille
In diesen stillen Tag platzt die Nachricht, dass Expräsident, de facto-Präsident und Peronistenchef Nestor Krichner in seinem Wochenend-Wohnort Calafate in Patagonien am Morgen verstorben sei. Während das offizielle Fernsehen sofort beginnt, an einer Heldenlegende zu stricken, und sich die ersten Anhänger aufmachen, um an der Plaza de Mayo Blumen niederzulegen, gibt es auch andere spontane Reaktionen. So mancher scheint fast erleichtert zu sein, denn zu sehr lastete das Gewicht des machthungrigen, harten Kämpfers in den letzten Jahren auf dem Land. Wie wird es weitergehen, fragt man sich. Wird Cristina Kirchner, von der es heißt, sie habe nur ausgeführt, was ihr Gatte und Expräsident angeordnet oder eingefädelt hatte, es schaffen, allein weiterzuregieren und sich weiterhin mit allen anzulegen , die sich nicht völlig vereinnahmen lassen, von Presse über Justiz bis zu den Landwirten? Alle sieben Jahre schlittert Argentinien in eine Krise, sagt man hier. Die letzte war um die Wende 2001/2002. Alle hoffen, dass sich der Tod dieses dominanten Politikers angesichts eines möglichen Machtvakuums an der Spitze und einer zersplitterten Opposition nicht zu einer neuen Krise auswächst.
Schon um 19.00 Uhr snd die ersten piquete-Truppen zusammengetrommelt, und es marschiert , skandiert und trommelt wieder vor meinem Haus. Der stramm kirchneristische Jugendverband des Movimiento Evita ist unterwegs. Sie tragen ein Transparent Nestor vive en nosotros/Nestor lebt in uns. Da ist sie wieder, die quasi-religiöse Heldenverehrung, auf die sich populistische Politiker seit Perón immer verlassen konnten.
Die 68er waren da
So gab es bei der Diskussion im Anschluss an meinen Vortrag über das Leseland Argentinien bei der Deutsch-Iberoamerikanischen Gesellschaft im Frankfurter Presseclub unter den Teilnehmern neben genuinem Interesse an neuer argentinischer Literatur auch Kritik an Argentiniens rückwärtsgewandter Politik und einer gewissen Großmannssucht. Manchmal scheinen das höchst lebendige Kulturleben von Buenos Aires und die immer mehr in Grabenkämpfen und gewaltsamen Zusammenstößen mit allen oppositionellen Gruppen versinkende Politik auf verschiedenen Sternen stattzufinden.
26. September 2010
Mit Müll in den Frühling
Da denkt man fast, ein normaler Schultag hätte besser getan, zumal kaum ein Schuljahr ohne Streikphase beginnt und gerade in diesem Jahr viele Schulen von Schülern besetzt wurden. Argentinien ist stolz auf seine gut ausgebildeten Menschen, aber wie lange noch?
Fotos: La Nación, 22.9.2010
Soja & Tango
4. September 2010
Die heilige Cristina von den Schlachthöfen
Ganze Fleischverarbeitungsfirmen müssen schließen. Noch vor zwei Jahren hatte sich Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner hübsch in weiß und lächelnd neben ein paar Rinderseiten fotografieren lasssen. Der brasilianische Konzern JBS, einer der größten Verarbeiter von Rindfleisch weltweit, hatte einen seiner argentinischen Standorte wiedereröffnet. Nun macht er der heiligen Cristina von den Schlachthöfen einen Strich durch die Rechnung. Er will schließen oder verkaufen, weil sich das Geschäft in Argentinien nicht mehr lohne.
Woran liegt´s? Auf dem Inlandmarkt mögen veränderte Eßgewohnheiten eine Rolle spielen, die selbst in Argentinien die Fleischberge, die der Durchschnittsargentinier täglich verzehrt, schrumpfen lassen, obwohl sie im Vergleich zu anderen Ländern immer noch beachtlich sind. Für die Einbrüche beim Export machen die Rinderzüchter dagegen die Regierung verantwortlich. Denn die hält von Marktwirtschaft nicht allzu viel, um so mehr aber von Kontrolle. Der zuständige Staatsekertär, Guillermo Moreno, ist denn auch der bestgehasste Mann unter Bauern und Fleischfirmen. Er kommt schon mal mit Boxhandschuhen zur Sitzung oder legt einen Revolver auf den Tisch, um seinen Gesprächspartnern mit dieser ebenso schlichten wie kruden Symbolik klarzumachen, wer das Sagen hat. Und er diktiert die Preise. Auch die variablen Ausfuhrabgaben, die sich die Regierung vor zwei Jahren ausgedacht hat, tragen nicht zur Besserung der Lage bei. Planungssicherheit ist in Argentinien ohnehin ein Fremdwort.
Selbst der schlichte Bürger merkt es schon. Eine Freundin, deren Sohn in Deutschland lebt, erzählte bekümmert, ihr Sohn bekäme sein gewohntes argentinisches Steak nicht mehr. Das komme jetzt aus Brasilien oder Australien. Also aufgepasst und nachgefragt, wenn man beim deutschen Schlachter zartes Rindfleisch kauft. Das gute Stück kommt doch aus Argentinien, oder?
Fotos: La Nación, 31.8.2010 und 4.8.2010
11. August 2010
Brot und Arbeit
Wir fahren nach Liniers, klärte mich meine Banknachbarin auf, heute ist der Tag von San Caetano. Ich komme aus Quilmes, verriet sie mir. Dort arbeitet die ungefähr Fünfzigjährige mit dem Indiogesicht als Hausangestellte. Ursprünglich ist sie aus der nordwestlichen Provinz Santiago del Estero, einer der ärmsten von Argentinien. Tausende strömten zusammen, um den Bittgottesdienst von Kardinal Bergoglio am Heiligtum von San Caetano in dem armen südlichen Vorort Liniers zu hören und zu dem Heiligen zu beten, der für Brot und Arbeit sorgen soll. San Caetano erfreut sich der größten Beliebtheit unter den auf besondere Wohltaten spezialisierten Heiligen, die in Argentinien verehrt werden, wie etwa San Expedito, der dafür zuständig ist, dass die Angelegenheiten des Gläubigen schnell und gerecht erledigt werden oder San Fanurio, der hilft, Verlorenes wiederzufinden.
Der argentinische Consejo del Salario Minimo wollte anscheinend an einem solchen Tag nicht abseits stehen, hatte er doch am Donnerstag davor beschlossen, den Mindestlohn von 1.500 Pesos auf 1.740 Pesos (ca. 335 €) anzuheben. Leider werden Wenige in den Genuss dieser weltlichen Wohltat kommen, denn gerade im unteren Sektor der Einkommenspyramide arbeiten die Meisten schwarz, und da gibt es keinen Mindestlohn.
5. August 2010
Die Brasilianer sind da!
Immer mehr Argentinier suchen eine Beschäftigung im prosperierenden Nachbarland. Portugiesisch-Kurse sind gefragt, und Brasilien hat, neben Frankreich, das wohl schönste Stadtpalais als Botschaft. Dort zeigt es gerade einen besonderen Botschafter kühner Moderne und Großzügigkeit auf brasilianisch. In einer üppigen Schau wird das Lebenswerk von Oscar Niemeyer ausgebreitet, dem brasilianischen Stararchitekten, dessen Urahne Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Hannöverschen nach Portugal ausgewandert war. In einem Film kann man den Vater der brasilianischen Architektur des 20. Jahrhunderts erleben, der mit seinen 103 Jahren noch täglich arbeitet und voller neuer Projekte steckt, so für ein Stadion zur Fußball-WM 2014 in Brasilien. Auf Großfotos und in Modellen ist die Fülle seiner Bauten ausgebreitet, vor allem die Prachtmeile Brasilias, die in den fünfziger Jahren in weniger als einem Jahrzehnt aus dem Boden gestampft wurde und die bezaubernde fliegende Untertasse, als Museum für Moderne Kunst in Niteroi in der Bucht von Rio de Janeiro gelandet. Aus seinen europäischen Exiljahren stechen eine Moschee in Algerien und ein Kulturzentrum in Le Havre hervor.
Auch Argentinien soll sein Stück Niemeyer bekommen. In Rosario wird ein kühnes, blendendweißes Halbrund mit Segel am Rio Paraná festmachen, sobald die Finanzierung steht. Nur wenige Werke Niemeyers blieben Enwurf, darunter leider ein 2007 für Potsdam geplantes Schwimmbad.
Heiter gestimmt verlasse ich das Botschaftsgebäude an der so französisch anmutenden Plazoleta im Viertel Retiro. Die Schwünge von Niemeyers Bauten tragen mich hinweg, und der Plan, Brasilia zu besuchen, bekommt neue Nahrung.
Abbildungen aus dem Ausstellungsprospekt
25. Juli 2010
Personenkult
Da wollen die Madres der Plaza de Mayo nicht zurückstehen. Unter ihrer Chefin Hebe Bonafini haben sie sich, nicht zuletzt dank reichlich fließender finanzieller Unterstützung seitens der Regierung, zu bedingungslosen Anhängern von Nestor und Cristina Kirchner entwickelt. So nennt sich eine Gruppierung der Madres nach dem Vornamen der Präsidentin Las Cristinas.
Ein unbefangener Zugereister würde annehmen, dass die Zentralbank von Bankexperten geführt wird. Nicht so in Argentinien. Die Präsidentin, von der Regierung in einem umstrittenen Coup eingesetzt, die beiden Vizepräsidenten und alle sieben Direktoren gehören politischen Gruppierungen an, die in der Öffentlichkeit heftig diskutiert werden. Die Nähe zu einer der Gruppen definiert sich dabei nicht nach Parteizugehörigkeit, sondern nach den leitenden Figuren, denen die jeweiligen Bankmenschen verpflichtet sind. So ergibt sich eine bunte Mischung von Kirchneristas, Lavagnistas, Redadristas und weiteren istas. Da geht es doch nicht um Fachleute, oder?
Eine weitere argentinische Identifikationsfigur, Diego Maradona, dient sich derweil dem in Caudillo-Manier regierenden Staatschef von Venezuela an. Mit Huguito, Hugochen Chavez ist Maradona auf Du und Du und will ihm helfen, die nächste Wahl zu gewinnen. Vielleicht hat Dieguito als Königsmacher mehr Glück denn als Fußballtrainer.
Karikatur: La Nación, 9.6.2010
Foto: La Nación, 27.7.2010
24. Juli 2010
Calderon: Das Leben ein Traum von Blut, Schweiß und Sperma
Auf der Bühne wurde gefurzt, masturbiert und den Frauen an die Wäsche gegangen, was das Zeug hält. Damit entfernt sich der Regisseur gar nicht so weit vom Barock der Entstehungszeit des Werks. Wie oft ist etwa im Simplizissimus von genüsslichen Furzkannonaden die Rede. Für das Versdrama über Sein und Schein, Zügellosigkeit und Ordnung ist der durchweg klamaukhafte Stil allerdings gewöhnungsbedürftig. Auch die zentrale Sandarena konnte weit weniger überzeugen als einst in Peter Brooks legendärer Pariser (und Hamburger) Carmen-Inszenierung. Das kostensparend karge Bühnenbild wartete außerdem mit einem großen Holzstuhl als Thron, einem Schaukelpferd und einem riesigen Spiegel auf, der schon mal schief hing, wenn die Welt von Calderon noch nicht in Ordnung gebracht worden war. Eine etwas platte Symbolik. Natürlich traten die Mächtigen in zeitgenössischen Militärklamotten auf. Hatten wir das nicht schon oft, zu oft? Grelle Tivoli-Lichterketten über der Bühne und im Zuschauerraum lenkten vom Bühnengeschehen ab und brachten die barocke Botschaft, nach der das Leben ein Theater ist, recht schlicht rüber.
Die gute Textbeherrschung der Schauspieler und ihr geschicktes Lavieren zwischen hohem Verston und beiläufigem Sprechen reichten als Gegengewicht nicht. Furcht und Mitleid blieben aus. Zuviel wurde geschrieen , gerannt und geturnt. Schade.
Szenenphoto aus dem Programmheft
15. Juli 2010
Im Teatro Colon - kalte Pracht
Weniger genussvoll gestaltete sich das Drum und Dran. Gnadenlos ließen die Türsteher eine allmählich auf ungefähr hundert Personen anwachsende Menge im eisigen Wind dieses Winterabends draußen stehen, weil erst die Damen und Herren einer Sonderveranstaltung im Goldenen Saal hinauskomplimentiert werden mussten. Auch eine 87jährige Konzertbesucherin fand keinen Einlass in die Vorhalle. Überdies scheint die Heizung noch nicht renoviert zu sein. So liefen in der kalten Pracht der vergoldeten, von riesigen Kristalllüstern erleuchteten Wandelgänge die Besucher in Mänteln herum. Auch die Pause verhieß keinen heißen Kaffee oder ein Gläschen Schampus. Die Buffets gähnten leer und ungastlich. Wieder zeigte sich, daß Kundendienst in Argentinien ein Fremdwort ist und Schlangestehen ein nationaler Sport.
Dafür konnte ich etwas bewundern, was ich in keinem anderen Openhaus je gesehen habe. Befragt, wofür die dunklen Verließe zu beiden Seiten der Bühne am Rande des Parketts dienten, klärte mich meine Freundin auf: Früher durfte man, wenn man Trauer hatte, nicht in die Oper, erzählte sie, so kam man auf die Idee, für die armen Trauernden, die vergeblich nach Kunstgenuss lechzten, diese dunklen Verliese zu schaffen, in denen sie nicht gesehen werden, aber am Opernspektakel teilhaben konnten. Eine echt argentinische Lösung, die auch heute in vielen Bereichen gerne Anwendung findet. Wie sagte mein Bankmensch: Das Papier ist eine Sache, die Wirklichkeit eine andere.Fotos: La Nacion
11. Juli 2010
Tafeln für die Schülerreise - In der Armenischen Gemeinde
Es ist Freitagabend im Kellergeschoss der Schule Instituto Marie Manoogian im Stadtteil Belgrano. Hier in der Calle Armenia laden zweimal wöchentlich die Eltern und Schüler der Schule im armenischen Viertel von Buenos Aires zur üppigen Tafel. Die Mütter kochen, die Väter schenken Wein aus und die Schülerinnen und Schüler servieren gekonnt. Zwischendurch gibt es eine Tanzeinlage. Wer will, kann sich die Zukunft aus dem Satz des orientalischen Kaffees lesen lassen.
Mit dem Erlös von Mahmara, einer Paprikacreme mit Nüssen, Basterma, luftgetrocknetem, gewürztem Rindfleisch, Shish Kebab und Feigentorte fördern die Gäste die Schule. Bald sind Winterferien. Dann geht es mit dem erwirtschafteten Geld für die Schüler der Oberklassen auf große Europareise. Wir besuchen auch Armenien, verrät mir Stefanía, die an unserem Tisch bedient. Verständigungsprobleme wird es nicht geben, denn im Instituo Marie Manoogian wird armenisch gelehrt. Eine Plakette in der Eingangshalle erinnert an den Besuch des armenischen Präsidenten in den 90gern zweisprachig, auf Castellano und in schöner armenischer Schnörkelschrift. Baree djanapar, Gute Reise wünschen wir Stefanía nach einem gelungenen Abend.
10. Juli 2010
Viva la Patria!
Ohne präsidentiellen Glanz, aber hochgestimmt und fröhlich fand das kleine Fest in Buenos Aires statt. Wiedereinmal sass ich in der Loge, denn alles spielte sich an der Ecke von Avendia de Mayo und Plaza del Congreso ab, der eigentlich Plaza de los dos Congresos heißt, um an das erste Parlament in Tucumán zu erinnern. Hier im barrio wurde gleich doppelt gefeiert, denn die Avendia de Mayo in ihrer heutigen Gestalt wurde 116 Jahre alt. So hatten die Freunde der Avenida de Mayo geladen, war Stadtkultursekretär Hernán Lombardi erschienen, dankte ein Geistlicher der Heiligen Jungfrau und wurde die albiceleste, die Flagge, feierlich aufgezogen. Dann hatten die Folkloretänze aus der Provinz Santiago del Estéro die Bühne und tanzten in ihren malerischen Kostümen eine Chacarena und Salsa nach der anderen bis in die späten Nachmittagsstunden dieses klaren, sonnigen Wintertags. Die Caballeros in ihren Pluderhosen, den hochhackigen Stiefeln , weißen Spitzengamaschen und schwarzen Sombreros, den Poncho über der Schulter und das Messer mit Silberknauf im Gürtel, stahlen den Frauen fast die Schau.
Das Bandoneon klagte und Gitarre und Trommel schlugen den Rhythmus. Der Conferencier versicherte, in Santiago del Estero, der fernen und armen Provinz im Nordwesten, habe man viel Zeit zum Tanzen, heiße die Provinz doch wegen des Brauchs, von Mittag bis fast in den Abend hinein Siesta zu halten, auch Santiago del Descanso, Santiago des Ausruhens. Viva la Patria, viva! Mit viel Tanzfreude und Nationalstolz, aber fernab der aktuellen politischen Streitereien ging dieser portensische Nachmittag zuende.
4. Juli 2010
Relative Armut
Doch Armut ist relativ. Schaut man auf die Statistik, so steht Argentinien innerhalb Lateinamerikas nicht so schlecht da. Nach einer Untersuchung von Gallup müssen 25,3% aller Argentinier mit weniger als 2 USD pro Tag auskommen, und einer unter fünf hat keinen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen. Besser geht es aber auf dem Subkontinent nur den Chilenen. Alle anderen, selbst das prosperierende Brasilien und das gesamtwirtschaftlich potentere Mexiko, weisen noch schlechtere Ergebnisse im Armutindex auf.
Foto: Fernando Rey
Im Fußballfieber III - Kein Mundial-Effekt für die Politik
Nun kann die politische Fußball-Dividende nicht eingefahren werden. Man muss sich den Schwierigkeiten wieder direkt zuwenden, zum Beispiel dem Kampf mit dem Parlament um die Verteilung der Haushaltsmittel. Im laufenden Haushaltsjahr werden unglaubliche 35 Milliarden Pesos, das sind rund 7,1 Milliarden Euro, von der Regierung nach eigenem Gutdünken und ohne jegliche Kontrolle des Parlaments ausgegeben. Welches Ministerium, welche Provinz, welche Gemeinde was davon bekommt, entscheidet, je nach dem Wohlverhalten und der Regierungsnähe der Amtsträger, allein Präsidentengatte und Ex-Präsident Nestor Kirchner, der im Hintergrund die Fäden zieht. Dabei handelt es sich um überschüssige Einnahmen. Der reguläre Haushalt pflegt vom Parlament ohne Debatte in toto verabschiedet zu werden.
Mit den Sondervollmachten bei der Vergabe von Haushaltsmitteln will das Parlament nun Schluss machen. Die Regierung hat aber schon ihr Veto zu einem eventuellen Gesetz in dieser Richtung angekündigt. So wird wohl, zumindest bis zur nächsten Präsidentenwahl im November 2011, alles beim Alten bleiben.
Manch einer, der es nicht mit den Kirchners hält, geht sogar soweit, die argentinische Niederlage gegen Deutschland zu begrüssen. Ich wollte unser Team nicht gewinnen sehen, sagte mir ein waschechter Porteno, das hätte nur den Kirchners in die Händen gearbeitet, und den unsäglichen Maradona aufgewertet. Unsere Barabravas konnten nur von den Südafrikanern diszipliniert werden, fügte er resigniert hinzu. Die militanten argentinischen Hooligans, manche davon vorbestraft, hatten sich in Südafrika so ruppig benommen, dass einige ausgewiesen wurden. Pikant wird die Geschichte dadurch, dass etliche in ihrer Heimat sich auch als regierungstreue piqueteros, Demonstranten, 'verdient' gemacht haben.
Die Niederlage im Viertelfinale nehmen sich viele Argentinier als nationale Schmach zu Herzen. Außerhalb der Mundial und... außerhalb der Welt? titelte eine Zeitung, als wieder einmal über die zunehmende politische und wirtschaftliche Isolierung Argentiniens geklagt wurde. In der WM zu verlieren, ist eine Niederlage für den Profisport, nicht für die Nation, konterte der angesehene Wissenschaftler Mario Bunge. Seine langjährige berufliche Tätigkeit in Kanada muss abgefärbt haben. Solche nüchterne Betrachtungsweise findet man in Argentinien selbst selten.
Kariktur Nestor Kirchner neben Maradona und Messi als Fußballer: La Nación 4.7.2010
Karikatur Kampf zwischen Congreso und Regierungspalast Casa Rosada: La Nación, 4.7.2010
Gaucho-Küsse
Geküsst wird immer, nicht nur unter Freunden. Vor ein paar Tagen musste ich zum Arzt. Nach geraumer Wartezeit im überfüllten, winzigen und schlecht belüfteten Wartezimmer konnte ich endlich zum Doktor hinein. Wr sahen einander das erste Mal, denn glücklicherweise bin ich nicht Stammkundin. So hätte ich den obligaten Schmatzer fast vergessen. Nicht so der Doc! Als vorigen Winter die Grippe A ihr Unwesen trieb, wurden viele Hygienemaßnahmen diskutiert und einige sogar ergriffen. Das Küssen einzuschränken, gehörte nicht dazu.
Argentinier sehen die Küsserei gerne als Beweis ihrer warmen Herzlichkeit untereinander an. Zweifel seien erlaubt. Der Arzt behandelte mich weder freundlicher noch preiswerter als seine deutschen Kollegen und der Maler, den ich kürzlich brauchte, bedeutete mir nach dem Kussaustausch, er könne bei mir leider in den nächsten Wochen nicht tätig werden, denn der Auftrag sei zu klein. Da müsse er erst eine Lücke in seinem vollen Terminkalender finden.
Gerne gäbe die Zugereiste eine Anregung, die auch das Hygieneproblem elegant lösen würde. In Wien ist man schon lange dazu übergegangen den früher obligaten Handkuss aus der Realität in die Rhetorik zu befördern. Küss die Hand, gnä' Frau kann man gelegentlich noch hören. Ausgeführt wird es immer seltener. Sollte das die Argentinier, Meister in der Virtualität, nicht ansprechen?
Karikatur: La Nación 2.7.2010
Im Fußballfieber II - Großzügige Verlierer
Doch wie erstaunt umd gerührt war ich, als mich nach dem Spiel, das so haushoch gegen die Mannschaft meines Landes verloren worden war, der Kellner aus meinem Eckcafé, der Gemüsehändler von gegenüber und selbst Passanten auf der Straße zum deutschen Sieg beglückwünschten. Gut, dieser Muellér, sagte Faustina, Concierge in meinem Haus, anerkennend. Meine Zeitungsfrau hatte heute La Nación zusammen mit einem Extraschmankerl für mich parat. Sie habe mich gestern im Fernsehen gesehen, wo wir deutschen Fans beim gemeinsamen Spielangucken in der deutschen Botschaft gefilmt worden waren. In Argentinien ist eben alles groß, die Großmäuligkeit ebenso wie die Großzügigkeit.
Foto: La Nación 4.7.2010
3. Juli 2010
Erfolgreich gegen den Strom
2. Juli 2010
Tourismus ganz dringlich
Anlass und Begründung muten wie eine Verhöhnung des Obersten Gerichtshofs an. Der hatte erst vor einigen Wochen entschieden, dass die Anwendung des Notverordnungsparagraphen einzuschränken sei und sich nur auf Fälle von besonderer Dringlichkeit beziehen dürfe. Wie hat doch kürzlich ein bekannter Politikwissenschaftler die demokratischen Verhältnissen spottende Konzentration von Macht in der Hand des präsidentiellen Paares genannt: Hyperpräsidentialismus. Mit Spannung wird nun erwartet, ob das neue Ministerium umgehend hyperaktiv wird.
1. Juli 2010
Immigrantennation auf spanisch-katholisch
Nichts könnte die Argentinidad besser umschreiben, als diese Anekdote. Argentinien klopft sich im Jahr des Bicentenario mit Vorliebe selbst auf die Schulter und sieht sich als tolerantes Einwandererland. Präsidentin Cristina Kirchner, die eine Schwäche dafür hat, andere zu schulmeistern, liebt es, den Europäern Lehren über den Umgang mit Einwanderern zu erteilen. Gerne übersieht man hier, dass die Einwanderungsgeschichte inzwischen etwas in die Jahre gekommen ist. Die großen Einwandererwellen liegen zwischen 120 und 60 Jahren zurück. Und die damals noch junge, ungefestigte Nation erwartete von ihren Immigranten eine Anpassung an die spanisch-katholische Leitkultur, an die im heutigen Europa nicht zu denken wäre. Alle Vornamen mussten hispanisiert werden. Wer sein Kind Karl oder Heinrich nennen wollte, landete bei Carlos und Enrique. Deshalb gibt es in Argentinien so viele Menschen mit Nachnamen wie Müller oder Bunge und spanischen Vornamen. Man stelle sich vor, die deutschen Behörden verlangten von türkischstämmigen Bürgern, dass sie ihr Kind Martin statt Feiredun nennen. Es gäbe wohl, zu Recht, einen Aufruhr. Das italienische Kulturinstitut von Buenos Aires beklagt, dass so wenige Portenos Italienisch sprächen, obwohl nahezu die Hälfte aller Argentinier italienische Vorfahren habe. Die mitgebrachte Sprache zu bewahren gelang nur wenigen, denn es wurde zu keiner Zeit gefördert.
Jüngere Einwanderung oder besser Arbeitsmigration gibt es in Argentinien nur aus Nachbarländern wie Bolivien und Peru. Die von dort kommen, sind so katholisch wie die große Mehrheit der Argentinier und sprechen ebenso Spanisch. Dennoch werden sie häufig über die Schulter angesehen. Heute wandern Argentinier eher selbst ab, nach Brasilien, das Argentinien wirtschaftlich immer mehr abhängt oder nach Spanien. Nicht von ungefähr lebt nur einer der Spieler in der argentinischen Fußballnationalmannschaft in seinem Heimatland. Alle anderen verdienen ihr Fußballerbrot im Ausland.
Eine Gruppe von Menschen, die nach Argentinien gar nicht einwandern musste, weil sie schon immer da war, lebt in ihrem eigenen Land vielfach wie im Exil, an den Rand gedrängt, geographisch und sozial marginalisiert- die Indios.
27. Juni 2010
Nothelfer Weihwasser
Endlich geht mir ein Licht auf. Ich kannte Weihwasser bislang nur als Wasserspiegel in marmornen Becken am Kircheneingang. Erst in Argentinien sah ich schlichte Plastikbehälter in den Höfen vieler Kirchen, aus denen sich die Gläubigen Wasser in mitgebrachte Flaschen abgossen. Vielleicht haben viele Menschen ähnliche Pobleme wie Gabriela Almagro zu bewältigen und müssen zum Beispiel ihre Sprösslinge mit Gaben von Weihwasser in die Schulen komplimentieren.
Wie gut, dass in Cordoba der Gatte der Schulamtsdirektorin Bürgermeister ist und ihre Schwester für das Gesundsheitsamt zuständig zeichnet. So kann es in dieser gesegneten Stadt kaum Schwierigkeiten geben. Vielleicht versorgt Gabrielas Schwester ja auch die Ärzte mit Weihwasser.
26. Juni 2010
Schulden gehören ins Museum - Die argentinische Lösung
25. Juni 2010
Endlich connected II - Claudias Cyber-Schüler
Inzwischen hat die Fundación Aprendiendo bajo la Cruz del Sur / Stiftung Lernen unter dem Kreuz des Südens, 85 Schulen in ländlichen Gemeinden mit Computern und dem nötigen Knowhow ausgestattet. In manchen dieser Schulen fehlt es an allem, und viele werden von oft benachteiligten Schülern aus der indigenen Bevölkerung besucht. Mit den Computern bekommen sie nun Zugang zu einem Wissenspool, der ihnen sonst verschlossen bliebe.
Möglich wurde dieser Schritt in die digitale Zukunft für die Schüler der Puna, der Hochebene in den nordwestargentinischen Anden, durch die Tatkraft und den Enthusiasmus einer Frau. Claudia Gómez Costa kam die zündende Idee, als die Grundschullehrerin mit einer behinderten Schülerin arbeitete. Claudia beschaffte für Mili, die nicht mit der Hand schreiben konnte, einen Computer und das Kind blühte auf. So entdeckte Claudia die Technologie als Tor zu neuen Chancen. Mit der eigenen Fortbildung fing sie an. Als erste Cyber-Studentin der Universität Quilmes bei Buenos Aires lernte sie, Unterrichten und neue Technologien zu verbinden. Mit Freunden, Kollegen und Nachbarn gründete sie dann 2004 die Stiftung. Inzwischen kann sie Firmen wie Microsoft, Dell und die argentinische Telefongesellschaft zu ihren Förderern zählen. Die Stiftung stellt nicht nur die Computer in die Schulen, sie sorgt auch dafür, dass Lehrer und Schüler damit umgehen können und dass sie connected bleiben. 200 bis 300 USD im Monat kostet das pro Schule.
Von sich selbst und ihrem Kampf gegen eine ernste Krankheit spricht die Mutter von vier Kindern kaum. Sie lässt lieber ihre Kollegen in den gefördeten Schulen zu Wort kommen. Es ist als gehe der Himmel über uns auf, sagten ihr die Lehrer. Und darin sind so viele neue Möglichkeiten. Kommunikation, nicht mehr isoliert zu sein, die Gesundheit der Schüler verbessern und in Notfällen Hilfe herbeirufen zu können, uns selbst fortzubilden, um unsere Schüler besser ausrüsten zu können.
Wer mehr erfahren oder helfen möchte, denn weiterhin fehlt es an Vielem, schreibe an claudia.gomezcosta@gmail.com
Foto: La Nación, 13.6.2010
20. Juni 2010
Candombe - Afro meets Latin
19. Juni 2010
Starke Bilder - Schicke Youngsters
Wie anders dagegen die Ausstellung in der Galerie Jacques Martínez in der Avenida de Mayo 1130! Der Galerist, unterstützt von seiner Tocher Clara, stellte einen der Künstlerfreunde aus, mit denen er in einer früheren Galerie in den Siebzigern und Achtzigern umgegangen war, und der inzwischen zum Grundbestand zeitgenössischer argentinischer Kunst gehört: Ernesto Deira. Von Deira waren Werke seines wichtigsten Schaffensjahrzehnts von 1967 bis 1977 zu sehen, die selten an die Öffentlichkeit gelangen. Die meisten sind heute in Privatsammlungen zu finden. Eine gebeugte Magdalena, deren Körper sich aus runden abstrakten Formen herausschält, das gelb leuchtende Rund eines Predigergesichts, diese packenden Menschendarstellungen sind fern jeder unverbindlichen Ästhetik. Ob die christlichen Motive einem Ausweichen auf scheinbarunverfängliche Thematik in der Militärdiktatur geschuldet sind, wie im Katalog nahegelegt wird, sei dahingestellt. Nahezu jedes dieser Bilder überzeugt in der künstlerischen Bewältigung der gestellten Aufgabe und weist über die Zeit seines Entstehens hinaus.
Bei Martínez traf sich das kunstbeflissene und wohl eher betuchte Bürgertum und ließ sich von Clara die detektivische Suche nach Deiras Werken erzählen bis hin zum Hauptstück der Ausstellung, einer Kreuzigung nach Matthias Grünewald. Den Grünewald des Isenheimer Altars benannte Deira als seinen bevorzugten europäischen Künstler, so erfuhren wir.
Grünewald konzentriert in seinem Bild Werte aus einer Welt, die sich heute aufgelöst hat. Sie aufzugreifen, impliziert Melancholie, Frömmigkeit und Ironie. Deshalb fehlt meinen Figuren das Volumen, die Dichte des Schmerzes, den Grünewald im Original zum Ausdruck brachte. Nicht weil ich das weglassen wollte, sondern weil die Mitte verloren gegangen ist, die Mitte, aus der sich der Mensch bis zu seiner völligen Zersplitterung entfernt hat. Mit dieser melancholischen Botschaft wird Deira im Katalog zitiert. Er ging schließlich während der Militärdiktatur ins Pariser Exil und starb dort 1986.
Abbildung aus adn Cultura, Beilage zu La Nación, 19.6.2010
Im Fußballfieber I oder Der Messias ist da!
Nicht nur sind an allen möglichen und unnmöglichen Stellen Fernsehschirme aufgestellt, auch die Schulunterrichts- und Arbeitszeiten passen sich dem Zeitplan der Spiele an. Wenn Argentinien am Ball ist, erstirbt alles Leben in der 12-Millionen-Einwohner-Metropole am Rio de la Plata.
Spieler und Trainer genießen geradezu kultische Verehrung. Presse und Fernsehen versuchen einander ständig mit Huldigungen an den Fußballgott zu übertrumpfen. Lionel Messi, weltbester Spieler und obwohl seit Jahren beim FC Barcelona unter Vertrag, für die WM heimgekehrt, wurde von der konservativen alten Dame La Nación gar als Messias apostrophiert.
Die fliegenden Händler haben Hochkonjunktur. Fähnchen, Schleifen, Rosetten, Anstecker und Aufkleber tauchen die City in die hübschen Landesfarben hellblau und weiß. Mögen andere sich über den Krach, den die südafrikanische Vuvuzela bei den Spielen macht, aufregen. Argentinier machen das Beste daraus und verkaufen die Tröte in ihren Landesfarben haufenweise. Weniger erbaut sind die Immobilienmakler. Sie klagen, ihr Geschäft ruhe fast völlig. Wir denken nach der WM über einen Kauf nach, sei die ständige Rede ihrer Kunden.
Not amused war auch Südafrika. Es wies einige der angereisten Barrabravas, der militanten argentinischen Hooligans, kurzerhand aus, waren die meisten doch wegen Randalierens und anderer Gewaltdelikte vorbestraft. In Argentinien sieht man das lässiger. Viele Barrabravas stehen der Regierung nahe und tauchen auch bei einschlägigen politischen Demonstrationen auf, die in Buenos Aires zum Alltag gehören.
Lachende Dritte sind die beiden Ks. Das regierende Ehepaar Kirchner, seit einem Jahr von allerlei gößtenteils selbstverschuldeten Problemen geplagt, setzt ganz auf Brot und Spiele. Man ist sicher, dass die Mundial, wie die WM hierzulande heißt, der Regierung Auftrieb geben wird, besonders natürlich wenn Argentinien gewinnt, wovon alle stolzen Argentinier überzeugt sind. Flugs wurde ein Propagandaheftchen unter die Leute gebracht, das Expräsident Nestor Kirchner, der nach dem Intermezzo der Regentschaft seiner Ehefrau 2011 wieder als Kandidat antreten will, wie Messi im Heiligenschein zeigt. Die Sonne, die die argentinische Flagge schmückt, geht hinter dem Haupt des Prätendenten auf, und innen findet man in dem Heftchen handlich alle Spieldaten der Mundial zusammengefasst.
Argentina Campeón: La Nación, 17.6.2010
El Messias Lionel Messi: La Nación, 25.5.2010
9. Juni 2010
Bicentenario - Nachlese II
Seine Kunden reisen aus der Haupstadt an. Sie suchen die klassichen Modelle, den Gardeliano, den Tangosänger Carlos Gardel unsterblich gemacht hat oder den Sombrero des Estancieros, des Landgutbesitzers. Die Tage, in denen die Frauen ihm die Pillenschachteln à la Jackie Kennedy aus den Händen rissen, sind vorbei. Hut zu Jeans und Espadrillas mag Héctor gar nicht. Aber man muss mit der Zeit gehen, Nostalgie ist seine Sache nicht. So wird er weiterarbeiten, damit jedermann und jedefrau auch in Zukunft die passende Kopfbedeckung bei di Pietro findet.
Foto: La Nación, 4.6.2010
Bicentenario - Nachlese I
Die Zeit des breitformatigen Ölschinkens in einem der Ausstellungsräume scheint fern zu sein. Um die Campana del Desierto zu rechtfertigen, den brutalen Vernichtungsfelzug gegen die indianische Urbevölkerung im 19. Jarhhundert, hatte der Maler nicht mit dick aufgetragener Symbolik gespart. Da reitet eine Horde nackter Wilder quer durchs Gemälde. Der vorderste hat eine halbnackte weiße Frau vor sich auf dem Sattel. Hilflos-lustvoll leuchtet ihr weißer Leib und flattert ihr langes Haar. Der nächste hat ein Kreuz erobert, und ein anderer hat eine (Schatz)kiste vor sich. Die cautiva blanca, die weiße Gefangene, entzündete und beflügelte Männerphantasien. Sie rauben uns unsere Frauen, unseren Glauben und unser Geld, also nieder mit ihnen, war die Botschaft.
Im Parterre läuft ein Zusammenschnitt von alten Filmen und Wochenschauen zur argentinischen Geschichte. Da gibt es weit weniger Frauen zu sehen. Viele hochtönende Reden werden geschwungen, Straßenschlachten geschlagen und rote Teppiche ausgerollt. Vowiegend älteres Publikum hat sich zur Betrachtung dieses patriotischen Kaleidoskops eingefunden. Die Jüngeren tummeln sich derweil in einer knallbunten, flimmernden Kunstschau im Centro Cultural Recoleta, wo sich in der Ausstellung Fase 2 die junge Kunstszene mit ihren Zukunfstvisionen austobt.
Abbildung aus dem Programmheft von Fase 2