27. Oktober 2010

Totenstille

Noch nie in den dreieinhalb Jahren, in denen ich hier an der Plaza del Congreso en pleno centro wohne, war es so still. Kaum ein Auto fährt vorbei. Es gibt keine piquete. Selbst Fußgänger sind nur vereinzelt unterwegs, denn alle Geschäfte und Restaurants haben geschlossen. Es ist Zähltag. Nach neun Jahren der erste Zensus. So begibt sich unsere ganze Hausgemeinschaft in das Erdgeschoss, wo Faustina, die Portiersfrau, einen Tisch für die freundliche Studentin aufgestellt und ihr einen Kaffee gebracht hat, damit sie uns alle in Ruhe zählen kann und fragen, welche Schulausbildung wir haben, ob wir einen Kühlschrank besitzen und wer von gestern auf heute bei uns übernachtet hat.

In diesen stillen Tag platzt die Nachricht, dass Expräsident, de facto-Präsident und Peronistenchef Nestor Krichner in seinem Wochenend-Wohnort Calafate in Patagonien am Morgen verstorben sei. Während das offizielle Fernsehen sofort beginnt, an einer Heldenlegende zu stricken, und sich die ersten Anhänger aufmachen, um an der Plaza de Mayo Blumen niederzulegen, gibt es auch andere spontane Reaktionen. So mancher scheint fast erleichtert zu sein, denn zu sehr lastete das Gewicht des machthungrigen, harten Kämpfers in den letzten Jahren auf dem Land. Wie wird es weitergehen, fragt man sich. Wird Cristina Kirchner, von der es heißt, sie habe nur ausgeführt, was ihr Gatte und Expräsident angeordnet oder eingefädelt hatte, es schaffen, allein weiterzuregieren und sich weiterhin mit allen anzulegen , die sich nicht völlig vereinnahmen lassen, von Presse über Justiz bis zu den Landwirten? Alle sieben Jahre schlittert Argentinien in eine Krise, sagt man hier. Die letzte war um die Wende 2001/2002. Alle hoffen, dass sich der Tod dieses dominanten Politikers angesichts eines möglichen Machtvakuums an der Spitze und einer zersplitterten Opposition nicht zu einer neuen Krise auswächst.

Schon um 19.00 Uhr snd die ersten piquete-Truppen zusammengetrommelt, und es marschiert , skandiert und trommelt wieder vor meinem Haus. Der stramm kirchneristische Jugendverband des Movimiento Evita ist unterwegs. Sie tragen ein Transparent Nestor vive en nosotros/Nestor lebt in uns. Da ist sie wieder, die quasi-religiöse Heldenverehrung, auf die sich populistische Politiker seit Perón immer verlassen konnten.

Die 68er waren da

Mein Buenos Aires-Blog hatte Ruhetage - wegen Argentinien. Denn ich war auf der Frankfurter Buchmesse, um Argentiniens Gastlandauftritt mitzuerleben. Es war ein Auftritt der großen Zahl. Eine 68 hatte man stolz vor dem hellblau-weißen Hintergrund der argentinischen Flagge auf Karten drucken lassen. Soviele Schriftsteller hatte Argentinien für Frankfurt aufgeboten. Im Kunstverein lagen die bunten Karton-Bücher der Verlagskooperative Eloisa Cartonera aus, und es gab Lesungen zuhauf.
Groß, wie alles was aus Argentinien kommt, war auch das Konterfei der Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner. Es erschien vervielfältigt auf einem historischen Bilderbogen, als hätte die populistische Peronistin die Befreiung von der Militärdiktatur höchst selbst errungen, was sie auch fast so gegenüber dem Spiegel verkündete, nur um es hinterher zu dementieren. Da passte es gut, dass man wie eine Reliquie ein Reisekostüm der ersten Peronistin Eva Perón mitgebracht hatte. Mit Literatur hatte das ebenso wenig zu tun wie die großen Konterfeis von Fußballheld Diego Maradona und Tangokönig Carlos Gardel. Die Klischees, über die Portenos gerne stöhnen, bediente das Land nun ungeniert selbst.

So gab es bei der Diskussion im Anschluss an meinen Vortrag über das Leseland Argentinien bei der Deutsch-Iberoamerikanischen Gesellschaft im Frankfurter Presseclub unter den Teilnehmern neben genuinem Interesse an neuer argentinischer Literatur auch Kritik an Argentiniens rückwärtsgewandter Politik und einer gewissen Großmannssucht. Manchmal scheinen das höchst lebendige Kulturleben von Buenos Aires und die immer mehr in Grabenkämpfen und gewaltsamen Zusammenstößen mit allen oppositionellen Gruppen versinkende Politik auf verschiedenen Sternen stattzufinden.