4. Juli 2010

Gaucho-Küsse

Haben Sie heute schon geküsst? Vielleicht ist ja der Gasmann dagewesen oder Sie haben die Nachbarin auf der Treppe getroffen. Schon sind zwei Küsse fällig. Mit Schmatz und auf die Wange, nur auf eine, bitteschön. So begrüßen sich Portenos, egal ob Männlein oder Weiblein.

Geküsst wird immer, nicht nur unter Freunden. Vor ein paar Tagen musste ich zum Arzt. Nach geraumer Wartezeit im überfüllten, winzigen und schlecht belüfteten Wartezimmer konnte ich endlich zum Doktor hinein. Wr sahen einander das erste Mal, denn glücklicherweise bin ich nicht Stammkundin. So hätte ich den obligaten Schmatzer fast vergessen. Nicht so der Doc! Als vorigen Winter die Grippe A ihr Unwesen trieb, wurden viele Hygienemaßnahmen diskutiert und einige sogar ergriffen. Das Küssen einzuschränken, gehörte nicht dazu.

Argentinier sehen die Küsserei gerne als Beweis ihrer warmen Herzlichkeit untereinander an. Zweifel seien erlaubt. Der Arzt behandelte mich weder freundlicher noch preiswerter als seine deutschen Kollegen und der Maler, den ich kürzlich brauchte, bedeutete mir nach dem Kussaustausch, er könne bei mir leider in den nächsten Wochen nicht tätig werden, denn der Auftrag sei zu klein. Da müsse er erst eine Lücke in seinem vollen Terminkalender finden.

Gerne gäbe die Zugereiste eine Anregung, die auch das Hygieneproblem elegant lösen würde. In Wien ist man schon lange dazu übergegangen den früher obligaten Handkuss aus der Realität in die Rhetorik zu befördern. Küss die Hand, gnä' Frau kann man gelegentlich noch hören. Ausgeführt wird es immer seltener. Sollte das die Argentinier, Meister in der Virtualität, nicht ansprechen?

Karikatur: La Nación 2.7.2010

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen