27. Juni 2010

Nothelfer Weihwasser

In Cordoba wollen oder können viele Schüler nicht in Schule gehen, weil es zuhause Zoff gibt oder weil sie schlicht keine Lust haben, obwohl die Stadt sich mit dem Titel La Docta, die Gelehrte, schmückt. Da ist guter Rat teuer. Glücklicherweise verfügt die zweitgrößte Stadt Argentiniens über eine Generaldirektorin des städtischen Schulwesens, die dem allerhöchsten Nothelfer besonders nahe zu sein scheint. So kann sie den betroffenen Schulen Segen spenden, damit in Zukunft alles besser werde. Großzügig verteilt sie eine Wundergabe, die nur den Festen im Glauben zugänglich ist. Ich bringe den Schulen ein wenig Weihwasser und empfehle den Lehrern, zu beten und sich Gott anzuvertrauen, enthüllte Gabriela Almagro ihr Patentrezept im argentinischen Fernsehen. Weil sie öfter mit Schwierigkeiten konfrontiert wird, hat sie zuhause gleich einen ganzen Spender des heiligen Wassers stehen. Und auch in ihrem Büro hält sie das kostbare Nass immer vor.

Endlich geht mir ein Licht auf. Ich kannte Weihwasser bislang nur als Wasserspiegel in marmornen Becken am Kircheneingang. Erst in Argentinien sah ich schlichte Plastikbehälter in den Höfen vieler Kirchen, aus denen sich die Gläubigen Wasser in mitgebrachte Flaschen abgossen. Vielleicht haben viele Menschen ähnliche Pobleme wie Gabriela Almagro zu bewältigen und müssen zum Beispiel ihre Sprösslinge mit Gaben von Weihwasser in die Schulen komplimentieren.

Wie gut, dass in Cordoba der Gatte der Schulamtsdirektorin Bürgermeister ist und ihre Schwester für das Gesundsheitsamt zuständig zeichnet. So kann es in dieser gesegneten Stadt kaum Schwierigkeiten geben. Vielleicht versorgt Gabrielas Schwester ja auch die Ärzte mit Weihwasser.

26. Juni 2010

Schulden gehören ins Museum - Die argentinische Lösung

Jeder Privatmann wäre wohl glücklich, wenn er das auch könnte. Schulden machen und nicht oder nur teilweise zurückzahlen. Staaten können es, und Argentinien ist darin ein Meister. Das ist doch nur Papier, belehrte mich kürzlich ein Bankmensch, die Wirklichkeit ist etwas anderes, als ich dumm genug war, eine gesetzliche Regelung ernst zu nehmen und nicht gleich mitzudenken, wie sie umgangen wird.


So entwickelten sich die Schulden, die Argentinien seit dem Corralito, dem Staatsbankrott 2001, aufgehäuft hat, zu einem Dauerbrenner. Mal will man sie bezahlen, dann wieder nicht oder nur teilweise. Ankündigungsmeisterin Cristina Kirchner hatte dem Club de Paris, der Gruppe europäischer Gläubigerländer, sogar schon die volle Begleichung in bar in Aussicht gestellt, vorbei.
An allem sind die bösen internationalen Organisationen und die Gläubigerländer selbst schuld. Dass hinter diesen Ländern, allen voran Deutschland und die USA, Menschen stecken, die mit ihrem Steueraufkommen dafür gerade gestanden haben, vergisst man gerne.
Am meisten geprellt fühlen sich die Kleinsparer, die einstmals Tangobonds, argentinische Staatsanleihen, gekauft haben, über die Rückzahlungsverhandlungen alt geworden sind und nun in einer vollmundig als Chance für sie angekündigten Umschuldungsaktion neue Bonds zeichnen müssen, um vielleicht 2038 70% ihres Einsatzes erlösen zu können. Nicht nur, dass Argentinien bis dahin eine seiner endemischen hausgemachten Finanzkrisen erleben kann und auch die neuen Papiere dann wertlos werden, viele Gläubiger werden am Stichtag wohl schon tot sein. So stimmten zornige italienische Geschädigte vor einigen Tagen in Rom den Tango des geprellten Gläubigers an. Ich habe vor Jahren 150.000 Euro gezeichnet, meine gesamten Ersparnisse. 2038 werde ich wohl nicht mehr erleben, sagte Gianluca und sang aus voller Kehle von Argentinien, der reichen Diebin.

Gianluca und Eugenia, bei der Argentinien auch in der Kreide steht, wären wohl nicht die richtige Zielgruppe für eine originelle, echt argentinische Idee. Wohin gehören die Schulden? Si claro, ins Museum. In Buenos Aires gibt es für alles ein Museum, bis hin zur Ansammlung historischer Kloschüsseln. Aber den Vogel schießt wohl das Museo de la Deuda Externa in der Wirtschftswissenschaftlichen Fakultät der UBA ab, der staatlichen Universität. Dort können die Besucher für 12 Pesos Eintritt in drei Sälen die Saga der argentinischen Staatsschulden verfolgen und sich von der Geschichte der Durchschnittsfamilie Nogracias, Neindanke, und ihrem schweren Schicksal im Kampf gegen die perfiden internationalen Finanzinstitutionen und die ebenso bösen Gäubigerländer zu Krokodilstränen rühren lassen. Eine Serie von drei Comics nimmt sich der erschröcklichen Geschichte an.

Nun müsste nur noch die Saga der armen Gläubiger geschrieben werden. Eugenia, Gianluca und die durchschnittliche deutsche Steuerzahlerfamilie Zahltzurück böten sicher genug Stoff für eine etwas andere Story.
Foto aus Rom: La Nación, 22.6.2010
Foto aus dem Museum: La Nación, 25.6.2010

25. Juni 2010

Endlich connected II - Claudias Cyber-Schüler

Im vorigen August hatte ich über die Schule im ebeno malerischen wie abgelegenen Andendorf Iruya berichtet und über die Freude von Schülern und Lehrern, durch Internet nun endlich mit der Welt verbunden zu sein.

Inzwischen hat die Fundación Aprendiendo bajo la Cruz del Sur / Stiftung Lernen unter dem Kreuz des Südens, 85 Schulen in ländlichen Gemeinden mit Computern und dem nötigen Knowhow ausgestattet. In manchen dieser Schulen fehlt es an allem, und viele werden von oft benachteiligten Schülern aus der indigenen Bevölkerung besucht. Mit den Computern bekommen sie nun Zugang zu einem Wissenspool, der ihnen sonst verschlossen bliebe.


Möglich wurde dieser Schritt in die digitale Zukunft für die Schüler der Puna, der Hochebene in den nordwestargentinischen Anden, durch die Tatkraft und den Enthusiasmus einer Frau. Claudia Gómez Costa kam die zündende Idee, als die Grundschullehrerin mit einer behinderten Schülerin arbeitete. Claudia beschaffte für Mili, die nicht mit der Hand schreiben konnte, einen Computer und das Kind blühte auf. So entdeckte Claudia die Technologie als Tor zu neuen Chancen. Mit der eigenen Fortbildung fing sie an. Als erste Cyber-Studentin der Universität Quilmes bei Buenos Aires lernte sie, Unterrichten und neue Technologien zu verbinden. Mit Freunden, Kollegen und Nachbarn gründete sie dann 2004 die Stiftung. Inzwischen kann sie Firmen wie Microsoft, Dell und die argentinische Telefongesellschaft zu ihren Förderern zählen. Die Stiftung stellt nicht nur die Computer in die Schulen, sie sorgt auch dafür, dass Lehrer und Schüler damit umgehen können und dass sie connected bleiben. 200 bis 300 USD im Monat kostet das pro Schule.

Von sich selbst und ihrem Kampf gegen eine ernste Krankheit spricht die Mutter von vier Kindern kaum. Sie lässt lieber ihre Kollegen in den gefördeten Schulen zu Wort kommen. Es ist als gehe der Himmel über uns auf, sagten ihr die Lehrer. Und darin sind so viele neue Möglichkeiten. Kommunikation, nicht mehr isoliert zu sein, die Gesundheit der Schüler verbessern und in Notfällen Hilfe herbeirufen zu können, uns selbst fortzubilden, um unsere Schüler besser ausrüsten zu können.

Wer mehr erfahren oder helfen möchte, denn weiterhin fehlt es an Vielem, schreibe an claudia.gomezcosta@gmail.com

Foto: La Nación, 13.6.2010

20. Juni 2010

Candombe - Afro meets Latin


Von Ferne ist ein leichter Trommelwirbel zu hören. Die Trommeln kommen näher, bis wir eingehüllt sind in pulsierende Candomberhythmen. Wir, das ist nicht etwa eine Truppe von Abenteurern mitten in Afrika, sondern eine Gruppe kreuznormaler Vernissage-Besucher im hippen Boutique- und Galerieviertel von Buenos Aires, in Palermo Soho. Dort hat es sich die neue Galerie Mar Dulce der Schottin Linda Neilson und des Porteno Ral Veroni zum Programm gemacht, Kunst aus Argentinien und Uruguay rund um den Rio de la Plata zu zeigen. So kam Diego Bianki mit seinen fröhlichen, starkfarbigen Bildern rund um den Candombe und den Karneval von Montevideo nach Buenos Aires und brachte die Trommler mit.


Mit Trommeln und Tanzen hielten die schwarzen Sklaven auf den Zuckerrohrfeldern von Brasilien und den Estancias von Uruguay die Erinnerung an ihre ferne afrikanische Heimat wach. So entstand der Candombe. Bis heute ist er am anderen Ufer des Mar Dulce lebendig geblieben. Vor allem der Karneval ist in Montevideo und der Grenzstadt Colonia de Sacramento Candombezeit.


Was wir in Palermo zu hören bekommen, ist Candombe Lubolo, Candombe, der von Weißen gespielt wird. Im Karneval malen sie sich schwarz an, denn zur Kolonialzeit mussten die comparsas, die Bandmitglieder, schwarz sein. Für einmal geht es in die umgekehrte Richtung. Nicht Weißsein ist begehrt, sondern schwarzes Mimikri. Ta-ra-ca-tá, ta-ra-ca-tá, ta-ra-ca-tá. Mit wirbelndem Stock und mit der Hand schlagen die Spieler auf ihren Trommeln, die wie Obelisks Bauch aussehen, den Rhythmus, auf der chico, der repique und der piano. Mir juckt es in den Beinen. Ach,wäre doch gerade Karneval und ich könnte tanzen wie alle anderen um mich herum!



Abbildungen aus: Diego Bianki, Candombe. Pequeno Editor, Buenos Aires 2009
Ausstellung: Candombe Lubolo. Galeria Mar Dulce, Buenos Aires, Uriate 1490, 19.6.-31.7.2010
























19. Juni 2010

Starke Bilder - Schicke Youngsters

Gleich zwei Galerien in meinem Wohnviertel luden diese Woche zur Vernissage. Beim angesagten Kunsthändler und Hausnachbarn Ignacio Liprandi gaben die Besucher mehr her als die ausgestellten Bilder. Diese Galerie zieht die Jugend an, besonders die smart herausgeputzte, oh so cool. Man trifft sich, man kennt sich, da sind die Bilder eigentlich Nebensache. Die Zeichnungen und Radierungen von Tomás Espina enttäuschten. Unentschieden zwischen figurativ und semiabstrakt lavierend, ließen sie die Bedeutung nicht ahnen, die ihnen die eigens bemühte Kuratorin auf ihrer Textbeigabe, die man sich von einem Block an der Wand abreißen konnte, mit gelehrten Worten beimaß.

Wie anders dagegen die Ausstellung in der Galerie Jacques Martínez in der Avenida de Mayo 1130! Der Galerist, unterstützt von seiner Tocher Clara, stellte einen der Künstlerfreunde aus, mit denen er in einer früheren Galerie in den Siebzigern und Achtzigern umgegangen war, und der inzwischen zum Grundbestand zeitgenössischer argentinischer Kunst gehört: Ernesto Deira. Von Deira waren Werke seines wichtigsten Schaffensjahrzehnts von 1967 bis 1977 zu sehen, die selten an die Öffentlichkeit gelangen. Die meisten sind heute in Privatsammlungen zu finden. Eine gebeugte Magdalena, deren Körper sich aus runden abstrakten Formen herausschält, das gelb leuchtende Rund eines Predigergesichts, diese packenden Menschendarstellungen sind fern jeder unverbindlichen Ästhetik. Ob die christlichen Motive einem Ausweichen auf scheinbarunverfängliche Thematik in der Militärdiktatur geschuldet sind, wie im Katalog nahegelegt wird, sei dahingestellt. Nahezu jedes dieser Bilder überzeugt in der künstlerischen Bewältigung der gestellten Aufgabe und weist über die Zeit seines Entstehens hinaus.

Bei Martínez traf sich das kunstbeflissene und wohl eher betuchte Bürgertum und ließ sich von Clara die detektivische Suche nach Deiras Werken erzählen bis hin zum Hauptstück der Ausstellung, einer Kreuzigung nach Matthias Grünewald. Den Grünewald des Isenheimer Altars benannte Deira als seinen bevorzugten europäischen Künstler, so erfuhren wir.

Grünewald konzentriert in seinem Bild Werte aus einer Welt, die sich heute aufgelöst hat. Sie aufzugreifen, impliziert Melancholie, Frömmigkeit und Ironie. Deshalb fehlt meinen Figuren das Volumen, die Dichte des Schmerzes, den Grünewald im Original zum Ausdruck brachte. Nicht weil ich das weglassen wollte, sondern weil die Mitte verloren gegangen ist, die Mitte, aus der sich der Mensch bis zu seiner völligen Zersplitterung entfernt hat. Mit dieser melancholischen Botschaft wird Deira im Katalog zitiert. Er ging schließlich während der Militärdiktatur ins Pariser Exil und starb dort 1986.

Abbildung aus adn Cultura, Beilage zu La Nación, 19.6.2010

Im Fußballfieber I oder Der Messias ist da!

Alle Welt ist in diesen Wochen fußballverrückt, aber Argentinien noch mehr. Wie nirgends sonst ist Fußball nationale Angelegenheit und Leidenschaft eines ganzen Volkes. La Pasión Bocense, die Passion von La Boca, heißt das Museum des Clubs, den Diego Maradona, der begnadete Spieler und umstrittene Trainer der Nationalmannschaft, groß gemacht hat. Herrscht schon das ganze Jahr über Fußballfieber, so erreicht es jetzt zur WM den Siedepunkt.

Nicht nur sind an allen möglichen und unnmöglichen Stellen Fernsehschirme aufgestellt, auch die Schulunterrichts- und Arbeitszeiten passen sich dem Zeitplan der Spiele an. Wenn Argentinien am Ball ist, erstirbt alles Leben in der 12-Millionen-Einwohner-Metropole am Rio de la Plata.

Spieler und Trainer genießen geradezu kultische Verehrung. Presse und Fernsehen versuchen einander ständig mit Huldigungen an den Fußballgott zu übertrumpfen. Lionel Messi, weltbester Spieler und obwohl seit Jahren beim FC Barcelona unter Vertrag, für die WM heimgekehrt, wurde von der konservativen alten Dame La Nación gar als Messias apostrophiert.

Die fliegenden Händler haben Hochkonjunktur. Fähnchen, Schleifen, Rosetten, Anstecker und Aufkleber tauchen die City in die hübschen Landesfarben hellblau und weiß. Mögen andere sich über den Krach, den die südafrikanische Vuvuzela bei den Spielen macht, aufregen. Argentinier machen das Beste daraus und verkaufen die Tröte in ihren Landesfarben haufenweise. Weniger erbaut sind die Immobilienmakler. Sie klagen, ihr Geschäft ruhe fast völlig. Wir denken nach der WM über einen Kauf nach, sei die ständige Rede ihrer Kunden.

Not amused war auch Südafrika. Es wies einige der angereisten Barrabravas, der militanten argentinischen Hooligans, kurzerhand aus, waren die meisten doch wegen Randalierens und anderer Gewaltdelikte vorbestraft. In Argentinien sieht man das lässiger. Viele Barrabravas stehen der Regierung nahe und tauchen auch bei einschlägigen politischen Demonstrationen auf, die in Buenos Aires zum Alltag gehören.

Lachende Dritte sind die beiden Ks. Das regierende Ehepaar Kirchner, seit einem Jahr von allerlei gößtenteils selbstverschuldeten Problemen geplagt, setzt ganz auf Brot und Spiele. Man ist sicher, dass die Mundial, wie die WM hierzulande heißt, der Regierung Auftrieb geben wird, besonders natürlich wenn Argentinien gewinnt, wovon alle stolzen Argentinier überzeugt sind. Flugs wurde ein Propagandaheftchen unter die Leute gebracht, das Expräsident Nestor Kirchner, der nach dem Intermezzo der Regentschaft seiner Ehefrau 2011 wieder als Kandidat antreten will, wie Messi im Heiligenschein zeigt. Die Sonne, die die argentinische Flagge schmückt, geht hinter dem Haupt des Prätendenten auf, und innen findet man in dem Heftchen handlich alle Spieldaten der Mundial zusammengefasst.

Argentina Campeón: La Nación, 17.6.2010
El Messias Lionel Messi: La Nación, 25.5.2010

9. Juni 2010

Bicentenario - Nachlese II

Am 25. Mai wurde nicht nur das Haus in dem ich wohne, La Inmobilaria, genau 100 Jahre alt, auch Héctor di Pietro konnte in seinem Laden das Hundertste feiern. Ebenso lange existiert der Hutmacherladen di Pietro im nordwestlichen Nachbarstädtchen Morón, gleich neben der Kathedrale. Wie so viele stammt di Pietro von italienischen Einwanderern ab. Großvater Francisco begann mit der Hutmacherei. Ich bin verrückt, sagt Héctor von sich selbst, dass ich mit diesem Handwerk immer noch weitermache. 20 Hüte schafft er zusammen mit seiner Frau Angelita an guten Tagen. Einen Hut fürs Leben kann man bei di Pietro finden, Handarbeit für ganze 230 Pesos (108 €).

Seine Kunden reisen aus der Haupstadt an. Sie suchen die klassichen Modelle, den Gardeliano, den Tangosänger Carlos Gardel unsterblich gemacht hat oder den Sombrero des Estancieros, des Landgutbesitzers. Die Tage, in denen die Frauen ihm die Pillenschachteln à la Jackie Kennedy aus den Händen rissen, sind vorbei. Hut zu Jeans und Espadrillas mag Héctor gar nicht. Aber man muss mit der Zeit gehen, Nostalgie ist seine Sache nicht. So wird er weiterarbeiten, damit jedermann und jedefrau auch in Zukunft die passende Kopfbedeckung bei di Pietro findet.

Foto: La Nación, 4.6.2010

Bicentenario - Nachlese I

Gerade noch rechtzeitig ist sie fertig geworden: die Casa de Bicentenario. Die Frauen haben die Nase vorn. Auf drei Etagen verteilt, gibt es eine Gesamtschau der Mujeres de la Argentina 1810-2010. Ein gut inszeniertes Ensemble von Fotos, Objekten, Filmen ud Liveinterviews soll ein Bild der argentinischen Frau in den letzten 200 Jahren vermitteln. Ein wenig beliebig, aber umfangreich. So findet jeder etwas. Die Stimmen der bekanntesten Dichterinnen lassen sich per Tonband anhören. Unvermittelt steht die Mühsal von Indiofrau in den Dörfen des Nordens und Nordwesten neben einer Reihe rüschiger Hochzeitskleider. Auf drei Bildschirmen erzählen männliche Passanten von ihrer argentinischen Traumfrau. Evita, die Herzköngin, ist fast immer dabei. Wer von der Peronstin weniger angetan ist, vemeidet das vertrauliche Evita und spricht von Eva Perón. Aber die Wichtigste war sie, davon sind alle überzeugt. Weit abgeschlagen die Frauenrechtlerin Alicia Moreau de Justo, die Amazone Juana Azurduy und die heutige Erste Dame, Cristina Kirchner. Vielen Männern sind die eigene Mutter oder Ehefrau näher als die abgehobenen Gestalten der Geschichte. Immerhin ist in diesem Land des machismo schon 1999 ein Gesetz verabschiedet worden, das 30% weibliche Parlamentskandidaten vorschreibt, und tatsächlich sieht man viele Frauen im Congreso auf den Abgeordnetenbänken.

Die Zeit des breitformatigen Ölschinkens in einem der Ausstellungsräume scheint fern zu sein. Um die Campana del Desierto zu rechtfertigen, den brutalen Vernichtungsfelzug gegen die indianische Urbevölkerung im 19. Jarhhundert, hatte der Maler nicht mit dick aufgetragener Symbolik gespart. Da reitet eine Horde nackter Wilder quer durchs Gemälde. Der vorderste hat eine halbnackte weiße Frau vor sich auf dem Sattel. Hilflos-lustvoll leuchtet ihr weißer Leib und flattert ihr langes Haar. Der nächste hat ein Kreuz erobert, und ein anderer hat eine (Schatz)kiste vor sich. Die cautiva blanca, die weiße Gefangene, entzündete und beflügelte Männerphantasien. Sie rauben uns unsere Frauen, unseren Glauben und unser Geld, also nieder mit ihnen, war die Botschaft.

Im Parterre läuft ein Zusammenschnitt von alten Filmen und Wochenschauen zur argentinischen Geschichte. Da gibt es weit weniger Frauen zu sehen. Viele hochtönende Reden werden geschwungen, Straßenschlachten geschlagen und rote Teppiche ausgerollt. Vowiegend älteres Publikum hat sich zur Betrachtung dieses patriotischen Kaleidoskops eingefunden. Die Jüngeren tummeln sich derweil in einer knallbunten, flimmernden Kunstschau im Centro Cultural Recoleta, wo sich in der Ausstellung Fase 2 die junge Kunstszene mit ihren Zukunfstvisionen austobt.

Abbildung aus dem Programmheft von Fase 2

5. Juni 2010

Fremde Eingeborene - Afrikaanse Literatur seit dem Ende der Apartheid


Wer sich im Städtchen Paarl umsieht, erblickt auf einem Hügel ein seltsames Monument. Betonnadeln ragen auf. Die überdimensionierten Backenzähne gehören zum Taalmonument. Stolz darauf, dass Afrikaans als offizielle Sprache Südafrikas anerkannt worden war, errichteten die Buren ihrer Taal ein Denkmal. Es ist uns ernst, steht am Sockel. Ernst wurde es auch für die anderen. Die Buren drückten ihre Sprache allen Bevölkerungsgruppen auf und mit ihr die Ideologie der Apartheid. Entsprechend verhasst war sie, obwohl einst selbst als Befreiungsschlag entstanden. Aus dem Korsett des kolonialen Holländischen wollte man heraus und wertete den Dialekt auf: eine Kreolsprache mit vereinfachter Grammatik und einem Wortschatz, der sich auch aus den Küchen speiste, in denen die malaiischen Sklaven arbeiteten. Edith Werner hat sich damit beschäftigt.

Afrikaans ist mit dem doppelten Makel behaftet, eine Küchensprache und das Idiom der Unterdrückung zu sein. Dabei gerät aus dem Blick, dass es eine Literaturtradition aufbauen konnte, in der es seine Ausdrucksmittel erweiterte und verfeinerte. Die Naturlyrik von Louis Leipoldt und Eugene Marais, die Versdramen von N.P. van Wyk Louw, später die Gedichte von Breyten Breytenbach und Wilma Stockenström sowie die Romane von Karel Schoeman und André Brink müssen sich hinter der englischsprachigen Literatur nicht verstecken. „Afrikaans kann alles ausdrücken“, ist Peter Horn überzeugt, ein der Burentümelei unverdächtiger Germanist. Es kann von deftiger Direktheit sein und von zarter Innigkeit. Sogar über sich selbst lachen kann es. Literaturnobelpreisträger John Coetzee, aus englisch-afrikaanser Familie, bekennt in seinen Kind heitserinnerungen: „Afrikaans ist wie ein Zaubermantel, der den Jungen überall hin begleitet auf einem Weg, der einfacher, heiterer und heller ist.“

Heute steht die afrikaanse Literatur unter dem Druck, sich gegenüber dem dominanten Englisch behaupten zu müssen, obwohl Afrikaans nach Zulu und Xhosa die meistgesprochene Muttersprache ist. Afrikaanse Bücher werden vom breiten Publikum nur wahrgenommen, wenn sie auch auf Englisch erscheinen. International erfolgreiche Autoren wie André Brink und Deon Meyer publizieren parallel in beiden Sprachen. Doch haben Verlage wie Tafelberg, Human & Rousseau, Kwela und Umuzi stets afrikaanse Literatur im Programm. Auf die politische Marginalisierung reagieren afrikaanse Schriftsteller unterschiedlich. Ihr prekär gewordenes Selbstverständnis bringt Journalist und Musiker Rian Malan am deutlichsten auf den Punkt. Alien Inboorling / Resident Alien betitelte er seine Reportagensammlung und sein jüngstens Liederalbum (2005). Ihre 350 jährige Siedlungsgeschichte macht sie zu Eingeborenen, ihre Hautfarbe und Verstrickung in die Apartheid zu Fremden. Die extremste Position nimmt Lyrikerin und Essayistin Antjie Krog ein. Schon der Titel ihrer Collage aus historischen Aufzeichnungen, dem Report über eine Mordaffäre und Tagebuchbekenntnissen, zeigt wo Krogs Reise hingehen soll, in die schwarze Haut: Begging to Be Black (2009). Im vorausgegangenen Buch A Change of Tongue (2003) hatte sie den Verlust des Afrikaans beklagt. Sie tat es zuerst auf Englisch und machte damit das Dilemma deutlich, in dem Afrikaans als Literatursprache steckt.

„Sie weiß, unser Bleiben in Afrika ist nicht dauerhaft“, resigniert die Heldin von Malene Breytenbachs Siedlerroman Gister is ´n ver land (Gestern ist ein fernes Land), der im Nachbarland Simbabwe spielt. Auch für Südafrika könnte es gelten. Rian Malan sucht in einem TV-Feature den letzten Afrikaaner (The last Afrikaner, 2004), und Karel Schoeman betitelt seine Autobiographie als Die laaste Afrikaanse boek (Das letzte afrikaanse Buch, 2002). Wo sie einen neuen Blick auf die Vergangenheit freisetzt, kann diese Haltung fruchtbar werden. So beugt sich Karel Schoeman in neueren Veröffentlichungen wie Kinders van die Kompanjie (Kinder der Kompagnie, 2006) und Seven Khoi Lives: Cape Biographies of the Seventeens Century (Sieben Khoi-Leben, 2009) mit archäologischer Genauigkeit und detailverliebter Fabulierlust über die Kolonialzeit. Der historische Roman war in der afrikaansen Literatur immer eine beliebte Gattung. Heute dient er nicht mehr politischer Mythenbildung.Er kommt kritisch daher, wie in Ingrid Winterbachs Roman Niggie (2002), der im Burenkrieg spielt, oder skurril wie in Bidsprinkaan (Kupidos Chronik, Osburg Verlag 2009, Übers. Inge Leipold) von André Brink über einen farbigen Missionar im kargen Nordkap. Ganz heutig ist die Burenkriegsrückblende Fees van die Ongenooides (Fest für die Ungebetenen) von P.G. du Plessis (2008). Es geht um die Kraft der Erinnerung und um das Vergessen. Vielfach durch Perspektiven- und Ortswechsel gebrochen ist Etienne van Heerdens Geschichte einer Burenfamilie in 30 nagte in Amsterdam (30 Nächte in Amsterdam, 2008).

Oft liest man in Autorenviten „aufgewachsen auf einer Farm“. Gab Olive Schreiner einst mit The Story of an African Farm (Geschichte einer afrikanischen Farm, Diogenes Verlag 1988, Übers. Elisabeth Schnack, vergr.) den Ton an, so ist der bäuerliche Hintergrund auch heute noch Lebenswirklichkeit und Erzählgegenstand, jenseits von verschwiemelter Blut- und Bodenromantik. Die Journalistin Karin Brynard greift in Plaasmoord (Farmmord, 2009) ein aktuelles, stark politisiertes Thema auf. Eine Bande von Viehdieben, schwarze Magie, weiße Suprematisten und die kontroverse Landumverteilung werden zum Thriller verkocht. Bevorzugte Projektionsfläche im Seelenhaushalt der Südafrikaner ist die emblematische Steppenlandschaft des Karoo. In der Titelgeschichte seiner neuesten Kurzkrimisammlung Schwarz. Weiß. Tot. (Aufbau Verlag 2009, Übers. Stefanie Schäfer) verlegt auch Deon Meyer den Plot in die Karoonag (Karoonacht, 2009).

Im Land der Umverteilung von Unternehmensanteilen aus weißen in schwarze Hände, bei der es nicht ohne Korruption abgeht, gedeiht der Wirtschaftskrimi. Autor Carel van der Merwe erlebte als Topmanager multinationaler Unternehmen die Chefetagen zwischen Johannesburg und London von innen. Ein Fegefeuer der Eitelkeiten ist Geldwolf (Geldhai, 2008), angesiedelt im südafrikanischen Finanz- und Regierungsmilieu.

Aus den afrikaansen Neuerscheinungen ragen zwei Romane heraus. Nicht nur nach ihrem Umfang, auch nach ihrer literarischen Bedeutung haben Triomf (1994) und Agaat (2004) von Marlene van Niekerk Gewicht. Beide heimsten südafri kanische und internationale Preise ein und wurden ins Englische übersetzt, Triomf auch verfilmt. Es ist kein Triumph, wenn man es nicht weiter als bis nach Triomf, dem ärmlichen Johannesburger Vorort, gebracht hat. Dort schlagen sich vier arme Weiße im Vorfeld der ersten demokratischen Wahlen Südafrikas durch, so gut es geht. In Agaat nehmen wir Teil an der so widersprüchlichen wie intimen Beziehung zwischen einer alten, kranken Weißen und ihrer farbigen Pflegerin. Im Times Literary Supplement wurde Agaat als der bedeutendste Roman seit Coetzees Schande genannt. Der deutsche Buchmarkt kann noch eine Entdeckung machen.
Was würde die farbige Pflegerin erzählen, wenn sie selbst ein Buch schriebe? Die drei Millionen farbigen – gemischtrassischen – Einwohner Südafrikas teilen mit den Buren die Muttersprache. In der Literatur aber sind sie unter repräsentiert. Zoë Wicomb, eine Griekwa, die in Schottland lebt, schreibt ihre Romane um das zwiespältige Selbst verständnis der Farbigen auf Englisch. Auch die Kapmalaiin Rayda Jacobs hat sich nach langem Exil in Kanada für Englisch entschieden. Einige Neuerscheinungen lassen aber hoffen, dass auch in Afrikaans etwas in Bewegung gerät. Bettina Wyngaard fand sich von der Literatur so wenig angesprochen, dass sie keine Lust mehr hatte, Afrikaans zu lesen. So schrieb sie selbst eine Geschichte: Troos vir die Gebrokenes (Trost für die Gebrochene, 2009). Drei Frauen und ihr mühseliges Leben auf dem platten Land stehen im Mittelpunkt. Um eine religiös verbrämte Mordserie und eine Siedlung, die sich dagegen wehrt, geht es in Die Evangelis van Kaggelsberg (Der Evangelist von Kaggelsberg, 2009). Das wirkliche Kaggelsberg hat Autor Abraham Philips erlebt und erlitten. Einen renommierten nationalen Lyrikpreis erhielt 2009 Ronelda Kamfer für ihre Gedichtsammlung Noudat slapende honde (Jetzt wo schlafende Hunde). Die 29-jährige bringt darin ihr zwiespältiges Verhältnis zum Afrikaans zum Ausdruck: „Noudat ek Afrikaans praat /…soek die verlede my nog steeds in die rëen“ (Sprech´ich Afrikaans /…sucht mich im Regen stets die Vergangenheit).

Die afrikaanse Lyrik hat immer eine bevorzugte Stellung eingenommen. Gedichte wie Oktobermaand (Oktobermonat) von Leipoldt und Winternag (Winternacht) von Marais sind noch 100 Jahre nach ihrem Erscheinen populär. Antjie Krog wurde zuerst als Lyrikerin bekannt, und die Anthologie neuer Gedichte Versindaba (2009), vom rührigen Buchhändler und Poeten Louis Esterhuizen zusammengestellt, stand auf der Bestsellerliste. Ebenso lebendig ist das afrikaanse Drama, das in einer Reihe von Festivals vom KKNK im Klein Karoo bis zu Aardklop in Potchefstroom jedes Jahr eine Leistungsschau erlebt. In seinem schrillen Theater Evita se Perron im Westküstenstädtchen Darling zieht Kabarettist und Dramatiker Peter Dirk Uys alias Evita Bezuidenhout die heiligsten Werte der Buren durch den Kakao, witzig und wachsam gegen jede Form von altem und neuem Machtmissbrauch. Tannie Evita, die zur Demokratin gewandelte Burenmatrone, hat das letzte Wort: „Die Zukunft ist sicher. Es ist die Vergangenheit, die unvorhersehbar ist“.