Alle Welt ist in diesen Wochen fußballverrückt, aber Argentinien noch mehr. Wie nirgends sonst ist Fußball nationale Angelegenheit und Leidenschaft eines ganzen Volkes. La Pasión Bocense, die Passion von La Boca, heißt das Museum des Clubs, den Diego Maradona, der begnadete Spieler und umstrittene Trainer der Nationalmannschaft, groß gemacht hat. Herrscht schon das ganze Jahr über Fußballfieber, so erreicht es jetzt zur WM den Siedepunkt.
Nicht nur sind an allen möglichen und unnmöglichen Stellen Fernsehschirme aufgestellt, auch die Schulunterrichts- und Arbeitszeiten passen sich dem Zeitplan der Spiele an. Wenn Argentinien am Ball ist, erstirbt alles Leben in der 12-Millionen-Einwohner-Metropole am Rio de la Plata.
Spieler und Trainer genießen geradezu kultische Verehrung. Presse und Fernsehen versuchen einander ständig mit Huldigungen an den Fußballgott zu übertrumpfen. Lionel Messi, weltbester Spieler und obwohl seit Jahren beim FC Barcelona unter Vertrag, für die WM heimgekehrt, wurde von der konservativen alten Dame La Nación gar als Messias apostrophiert.
Die fliegenden Händler haben Hochkonjunktur. Fähnchen, Schleifen, Rosetten, Anstecker und Aufkleber tauchen die City in die hübschen Landesfarben hellblau und weiß. Mögen andere sich über den Krach, den die südafrikanische Vuvuzela bei den Spielen macht, aufregen. Argentinier machen das Beste daraus und verkaufen die Tröte in ihren Landesfarben haufenweise. Weniger erbaut sind die Immobilienmakler. Sie klagen, ihr Geschäft ruhe fast völlig. Wir denken nach der WM über einen Kauf nach, sei die ständige Rede ihrer Kunden.
Not amused war auch Südafrika. Es wies einige der angereisten Barrabravas, der militanten argentinischen Hooligans, kurzerhand aus, waren die meisten doch wegen Randalierens und anderer Gewaltdelikte vorbestraft. In Argentinien sieht man das lässiger. Viele Barrabravas stehen der Regierung nahe und tauchen auch bei einschlägigen politischen Demonstrationen auf, die in Buenos Aires zum Alltag gehören.
Lachende Dritte sind die beiden Ks. Das regierende Ehepaar Kirchner, seit einem Jahr von allerlei gößtenteils selbstverschuldeten Problemen geplagt, setzt ganz auf Brot und Spiele. Man ist sicher, dass die Mundial, wie die WM hierzulande heißt, der Regierung Auftrieb geben wird, besonders natürlich wenn Argentinien gewinnt, wovon alle stolzen Argentinier überzeugt sind. Flugs wurde ein Propagandaheftchen unter die Leute gebracht, das Expräsident Nestor Kirchner, der nach dem Intermezzo der Regentschaft seiner Ehefrau 2011 wieder als Kandidat antreten will, wie Messi im Heiligenschein zeigt. Die Sonne, die die argentinische Flagge schmückt, geht hinter dem Haupt des Prätendenten auf, und innen findet man in dem Heftchen handlich alle Spieldaten der Mundial zusammengefasst.
Argentina Campeón: La Nación, 17.6.2010
El Messias Lionel Messi: La Nación, 25.5.2010
19. Juni 2010
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