Gleich zwei Galerien in meinem Wohnviertel luden diese Woche zur Vernissage. Beim angesagten Kunsthändler und Hausnachbarn Ignacio Liprandi gaben die Besucher mehr her als die ausgestellten Bilder. Diese Galerie zieht die Jugend an, besonders die smart herausgeputzte, oh so cool. Man trifft sich, man kennt sich, da sind die Bilder eigentlich Nebensache. Die Zeichnungen und Radierungen von Tomás Espina enttäuschten. Unentschieden zwischen figurativ und semiabstrakt lavierend, ließen sie die Bedeutung nicht ahnen, die ihnen die eigens bemühte Kuratorin auf ihrer Textbeigabe, die man sich von einem Block an der Wand abreißen konnte, mit gelehrten Worten beimaß.
Wie anders dagegen die Ausstellung in der Galerie Jacques Martínez in der Avenida de Mayo 1130! Der Galerist, unterstützt von seiner Tocher Clara, stellte einen der Künstlerfreunde aus, mit denen er in einer früheren Galerie in den Siebzigern und Achtzigern umgegangen war, und der inzwischen zum Grundbestand zeitgenössischer argentinischer Kunst gehört: Ernesto Deira. Von Deira waren Werke seines wichtigsten Schaffensjahrzehnts von 1967 bis 1977 zu sehen, die selten an die Öffentlichkeit gelangen. Die meisten sind heute in Privatsammlungen zu finden. Eine gebeugte Magdalena, deren Körper sich aus runden abstrakten Formen herausschält, das gelb leuchtende Rund eines Predigergesichts, diese packenden Menschendarstellungen sind fern jeder unverbindlichen Ästhetik. Ob die christlichen Motive einem Ausweichen auf scheinbarunverfängliche Thematik in der Militärdiktatur geschuldet sind, wie im Katalog nahegelegt wird, sei dahingestellt. Nahezu jedes dieser Bilder überzeugt in der künstlerischen Bewältigung der gestellten Aufgabe und weist über die Zeit seines Entstehens hinaus.
Bei Martínez traf sich das kunstbeflissene und wohl eher betuchte Bürgertum und ließ sich von Clara die detektivische Suche nach Deiras Werken erzählen bis hin zum Hauptstück der Ausstellung, einer Kreuzigung nach Matthias Grünewald. Den Grünewald des Isenheimer Altars benannte Deira als seinen bevorzugten europäischen Künstler, so erfuhren wir.
Grünewald konzentriert in seinem Bild Werte aus einer Welt, die sich heute aufgelöst hat. Sie aufzugreifen, impliziert Melancholie, Frömmigkeit und Ironie. Deshalb fehlt meinen Figuren das Volumen, die Dichte des Schmerzes, den Grünewald im Original zum Ausdruck brachte. Nicht weil ich das weglassen wollte, sondern weil die Mitte verloren gegangen ist, die Mitte, aus der sich der Mensch bis zu seiner völligen Zersplitterung entfernt hat. Mit dieser melancholischen Botschaft wird Deira im Katalog zitiert. Er ging schließlich während der Militärdiktatur ins Pariser Exil und starb dort 1986.
Abbildung aus adn Cultura, Beilage zu La Nación, 19.6.2010
19. Juni 2010
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen