24. Dezember 2009

Maria und Josef bei den Argentiniern II

Die Freunde der Avenida de Mayo machten es möglich. Zwei Tage vor Heiligabend wurde das Endlosband abgestellt, und junge Tänzer in den farbenprächtigen Kostümen der Anden, die Jungen mit Indiomütze und Poncho, die Mädchen mit knallbunten weiten Röcken und handgewebten Umhängen, tanzten an "meinem" Platz vor der Krippe. Eine schöne junge Maria im himmelblauen Mantel ging mit ihrem Josef im Beduinenlook und dem Kind still durch die Menge der Tänzer und Zuschauer. Der Monsignor hielt eine Ansprache, dass wir diesen Abend alle in unserem corazon, unserem Herzen, bewahren sollten und segnete drei frischvermählte Ehepaare im Angesicht des heiligen Paars vor der Krippe. Dann wurde es lustig. Der Sänger Zamba Quipildor sang Weihnachstweisen, deren Melodien der rhythmusbetonten argentinischen Folkloremusik entlehnt waren, und die Band ließ die Trommeln wirbeln. Im Hintergrund hatte die Avenida de Mayo ihre weihnachtlichen Lichtervorhänge aufgehängt.

Urahne, Mutter und Kind aus der Nachbarschaft dieses Traditionsviertels hatten sich versammelt. So auch meine Nachbarin Susana mit Enkel Santiago. Nach Weihnachten wird sie mit der ganzen Sippe in das Haus der Eltern nach Cordoba, dem argentinischen natürlich, aufbrechen. Sie werden wohl einen Kleinbus brauchen, denn nur die engere Familie bringt 18 Reisende zusammen. Argentinier haben vorerst keine Nachwuchssorgen.

21. Dezember 2009

Argentinien - "Land der Ideen"

Die Traditionszeitung La Nacion wird 140 Jahre. Da will sie zeigen, was Argentinier alles Großartiges zu Wege gebracht haben. 140 Ideen und die Menschen, die dahinter stecken, werden porträtiert. Soviel zusammen zubringen, ist sicher nicht einfach. So finden sich neben beachtlichen Einträgen recht belanglose und andere deren stolze Aufzählung nicht unfreiwilliger Komik entbehrt. Eines ist sicher. Die Argentinier haben ihn nicht erfunden, aber sie sind unbestreitbare Weltmeister in dem eleganten Sport der Besserbetuchten, im Polo. Auch den Tango kann ihnen wohl niemand streitig machen – außer Uruguay, das ihn mit erfunden hat und von der UNESCO ebenfalls das Gütesiegel als Heimat des Tangos bekam.

Das dickleibige Sonderheft von La Nacion schweigt sich leider über einige andere Ideen und Phänomene aus, die Argentinier entweder erfunden oder zu Meisterschaft gebracht haben: den unseligen Peronismus mit seiner weltlichen Heiligen Sancta Evita, die cola, das unnötige Schlangestehen bei jeder Gelegenheit und die coima, die Verfeinerung der Weisheit, dass eine Hand die andere wäscht, um nur die auffallendsten „Ideen“ dieser Art zu nennen. Ein Fremder könnte geneigt sein, sie Missstände zu nennen.

Coverbild: La Nacion, 17.12.2009

Maria und Josef bei den Argentiniern I

Von drei Wochen aus den windigen Weiten Patagoniens und Feuerlands zurück, empfängt mich die vertraute Geräuschkulisse an meiner auch akustisch so strategischen Ecke zwischen Avenida de Mayo und Plaza del Congreso. Jetzt in der Adventszeit ist sie um eine neue Komponente bereichert. In diesem Jahr hat sich die Diözese von Buenos Aires etwas Besonderes ausgedacht. Auf dem Platz wurde eine Krippe mit lebensgroßen Figuren aufgebaut. Kamele, Palmen, die Weisen und der Stall mit Christuskind nebst Elternpaar, alles ist versammelt.

Auch die Kirche muss in der überbordenden Geräuschkulisse des Zentrums kräftig klappern. So genieße ich nun schon seit Sonntag von nachmittags bis in die Nachtstunden eine Folge von Predigt, Weihnachtsgeschichte und lateinamerikanisch munteren Weihnachtsliedern aus der Konserve. Das Christkind ist sicher auch Porteno und ruht nicht vor Mitternacht Das Band wiederholt sich etwa alle 15 Minuten. Für die Anwohner ein echter Härtetest, für die Passanten und die Kinder auf dem Spielplatz gleich hinter der Krippe die reine Wonne. Abends ist die Krippe purpur-lila illuminiert. Um die bengalische Beleuchtung würde so manche Tangobar wohl die heilige Familie beneiden. Mit akustischen und optischen Effekten wird nicht gespart, alles im Dienste des Höheren und seiner irdischen Amtswalter.

16. November 2009

Mauerfall auf Argentinisch

Mit ein wenig Verspätung, aber unter großem Zuspruch einer sonntäglich-frühsommerlich gestimmten Menge fielen gestern auf der Avenida de Mayo weitere Dominosteine, um an den 9. November 1989 zu erinnern. Deutsche Botschaft und Stadtkulturamt hatten sich für die Aktion zusammengetan, und 15.000 Menschen waren dabei, als die 200 von Schülern der deutschen Schulen von Buenos Aires bemalten Mauerbausteine angestoßen wurden. Kleine Kinder flitzten durch die Mauerlücken, und niemand brauchte unter den Platanen im frischen Grün einen Regenschirm wie in Berlin vor einer Woche. Weil´s schon so schön feierlich war, stimmte ein Tenor gleich noch das argentinische Flaggenleid an, das den Portenos so teuer ist wie die Nationalhymne. Dann gab es deutsche Volksmusik und schließlich –wie könnte es in Buenos Aires anders sein – eine Tangoshow.

Ein Vater erklärte seinem Dreikäsehoch, was damals vor 20 Jahren im fernen Berlin passiert ist. Der wird die Erklärung sicher vergessen, aber vielleicht nicht den Stein, den er mit anderen Kindern bemalt hat.
Foto: La Nacion, 16.11.2009

8. November 2009

Sein oder Dasein?

Das klingt, als sei es so ziemlich dasselbe. Nicht für Argentinier. Die spanische Sprache hat ihnen die Möglichkeit gegeben, einen feinen Unterschied zu machen, der uns Deutschen wie allen, die mit einer germanischen Sprache vorlieb nehmen müssen, verschlossen bleibt. Sie können mit dem Verb ser vom Sein als Dauerzustand sprechen, sozusagen das Sein an sich und mit dem Verb estar vom Sein als vorübergehendem Zustand oder als Ortsbestimmung, sozusagen das sich Befinden, wie oder wo auch immer. Als Spanier oder Südamerikaner hätte Heidegger sich vielleicht manche Mühe neuer Wortschöpfungen sparen können.

Für Philosophen eröffnet sich aber ein ganz anderes Feld der Spekulation, besonders wenn sie in einem Land leben, das eine europäischstämmige Bevölkerung hat – die Mehrheit der Einwanderer Argentiniens angefangen mit den spanischen Kolonisatoren – und eine, die nicht aus diesem Denkhorizont kommt – die Minderheit der indigenen Indios. Der argentinische Philosoph Rodolfo Kusch hat sich schon früh gegen die in Argentinien übliche Opposition von Zivilisation und Barbarei gewendet, bei der die Rollenverteilung immer klar war. Zivilisation kam aus Europa und Barbarei war auf der argentinischen Scholle selbst gewachsen. Man kann das bei Domingo Faustino Sarmiento, dem Erzieher und Präsidenten, nachlesen, der dieses Begriffspaar geprägt hat. Sein Buch zum Thema ist 2007 bei Eichborn auf Deutsch herausgekommen. Die Indios hatten also die schlechten Karten, worauf man sich in der sogenannten campaña del desierto im 19. Jahrhundert kein Gewissen daraus machte, die meisten umzubringen. Es diente ja der Zivilisierung des Landes.

Kusch meint nun, die Indios hätten ein anderes Seinsverständnis als die Europäer. Sie sähen das Sein des Menschen als etwas Vorübergehendes an, als ein estar siendo. Das bringe sie dazu, im Einklang mit der Natur zu leben. Die Europäer sähen dagegen seit den alten Griechen das Sein, das ser, als einen Zustand an, dem Dauer zu verleihen sei. Deshalb sei die Welt für sie ein Objekt, das unterworfen werden müsse.

Kusch selbst hat seine Philosophie gelebt und ist in die Welt der Indios in den argentinischen Anden vollkommen eingetaucht. Er hat mit ihnen gegessen, an ihren Festen teilgenommen und ihre Vergangenheit zu ergründen versucht. Man mag seine Theorie für spitzfindig halten. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn sie bei dem in Argentinien immer noch verbreiteten Hochmut gegenüber allem Indigenem zu mehr Nachdenklichkeit führte. Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, dass Kuschs Werk, das schon in den 60er Jahren entstanden ist, jetzt wieder diskutiert wird.

Pantalones muertos

Sie raten es, die Toten Hosen waren da. Nichtsahnend ging ich vor ein paar Tagen durch die Calle Rodriguez Peña in meiner Nachbarschaft, als ich von einer Menschenmenge und ziemlich viel Lärm gebremst wurde. Wieder eine piquete, dachte ich resigniert und wollte einen Umweg machen. Da drang Hier kommt Alex an meine Ohren, denen ich kaum trauen mochte. Doch, sie waren es! Das deutsche Punk-Exportwunder, die Toten Hosen. Vor ihrem Auftritt beim diesjährigen Rock Festival von Buenos Aires, waren sie mitten in dieser recht schmalen Innenstadtstraße auf einen Balkon geklettert und rockten was das Zeug hält. Ein Gratiskonzert, weil wir die Stadt so lieben, verrieten sie der Presse. Die Liebe ist nicht einseitig. Hunderte von Fans verstopften die Straße und rockten mit. Wer die Toten Hosen von Nahem ohne alles Bühnenbrimborium sehen und hören möchte, braucht nur nach Buenos Aires zu kommen, denn sie treten hier öfter auf, weil sie die Stadt so lieben…, siehe oben.

Endlich connected I - Die Cyper-Schüler der Puna

Sie haben kein elektrisches Licht, kein fließendes Wasser und die Signale fürs Mobiltelefon erreichen sie auch nicht. Aber die Kinder der Dorfschule in Sala Esculla, einem Flecken auf 2.900 m Höhe in den nordwestargentinischen Anden, haben jetzt einen Computer. Und sie gestalten ihren eigenen blog, um der Welt von ihrem Leben erzählen zu können.

Als der Hubschrauber der Leute von der Stiftung Fundación bajo la Cruz del Sur / Lernen unter dem Kreuz des Südens auf dem Grasstreifen bei der Schule zwischen hohen Andengipfeln landet, haben sich alle 35 Schüler und die drei Lehrer in freudiger Erwartung versammelt. Ihr Rektor, Alejo Tadeo Acuna, hat nicht aufgegeben. Seit Jahren bemüht er sich hartnäckig, die Lernbedingungen seiner Schützlinge zu verbessern. Jetzt soll ihnen, deren Schulbusse drei Esel sind, und von denen noch niemand je einen Computer gesehen hat, das Internet ein Tor zur Welt und zur Zukunft auftun. Sonnenkollektoren sorgen für die nötige Energie, denn davon gibt es hier in den sonnigen Bergen mehr als genug.

Wer mehr erfahren oder helfen möchte, denn weiterhin fehlt es an Vielem, schreibe an: escuelasalaesculla@gmail.com, sehe in den blog: http://escuelasalaesculla.blogspot.com/ oder besuche die Schule auf einer Argentinienreise. Das nur eine Tageswanderung entfernte Dorf Iruya ist einer der magischen Orte der argentinischen Andenregion in der Provinz Salta.

Mercedes Sosa ist tot

Die musikalische Botschafterin Argentiniens ist verstummt. La Negra nannte sie sich selbst, denn in Argentinien ist es seltsamer Brauch, Menschen mit Indioblut negros zu nennen. Sie sang für mi gente, ihre Leute, und sie sang für den Kampf um Gerechtigkeit. Was sie auch sang, Kampflieder wie Hasta la victoria und Lieder von großer Innigkeit wie Duerme mi negrito, ihre herrliche Stimme und ihre Gabe, ihr Publikum in den Bann zu ziehen, ließen sie, neben Atahualpa Yupanqui, zu der Folkloremusikerin Argentiniens werden.

Ihre im Alter seltener werdenden Auftritte waren Ereignis. So habe ich sie noch 2008 auf der Plaza de Mayo erlebt: ihr breites Indiogesicht, die runde kleine Gestalt in den Poncho eingehüllt. Sie schien unveränderbar in sich zu ruhen. Und doch war eines ihrer emblematischen Lieder dem Wandel gewidmet: Todo cambia.

Mercedes Sosa war eine eminent politische Sängerin, darin eine Schwester Miriam Makebas, der großen, vor einem Jahr verstorbenen Südafrikanerin. Beide waren zeitweilig im Exil. So ähnlich und doch so verschieden, hier bei La Negra alles Melodie, dort bei der wirklichen Schwarzen, die gegen die Apartheid angesungen hatte, alles Rhythmus. Beiden gerann das Kampflied nie zu purem Agitprop. Wer Solo le pidio a Diós gehört hat, wird Mercedes Sosas Stimme, ihre Ausdruckskraft und Nuancierungsfähigkeit nicht vergessen. Sie feierte das Leben in all seinen Widersprüchen, im Leiden und in seinen glücklichen Momenten. Gracias a la vida ist ihr Vermächtnis.

7. November 2009

Pressefreiheit bedroht

Als ich heute wie gewohnt meine argentinischen Zeitungen am Kiosk gegenüber kaufen wollte, war er geschlossen. Ein Plakat klebte an der Tür, das besagte, heute sei der Tag der „ Würde und des Kampfes“ und alle Kioske blieben geschlossen, unterzeichnet von der Gewerkschaft der Zeitungsverkäufer. Auf dem Weg traf ich die Portiersfrau meines Hauses. Sie wusste mehr. Die Gewerkschaft habe die Auslieferung der beiden Zeitungen La Nación und Clarín – der bedeutendsten des Landes – blockiert. Gemeint war die allmächtige Transportarbeitergewerkschaft unter Hugo Moyano und Sohn, die in allen piquetes, den oft in Gewalt ausartenden Aufmärschen, ihre Finger hat und in enger Abstimmung mit der peronistischen Regierung Cristina Kirchners handelt.
Seit langem tobt der Kampf zwischen der nicht regierungskonformen Presse und der Präsidentin, die bei jeder Gelegenheit gegen die Presse vom Leder zieht, ganz nach dem Muster ihres autokratischen Kollegen Hugo Chavez, dem Präsidenten von Venezuela. Die Presse ist einfach an Allem Schuld. Dieses Wüten einer Regierung, die auf allen Feldern fern jeder Kompromissbereitschaft handelt, eskalierte in den letzten Wochen gefährlich. Inzwischen muss auch ein nüchterner Betrachter die Pressefreiheit in Argentinien als ernsthaft bedroht ansehen. Vor einigen Wochen ist mit der peronistischen Mehrheit im Parlament ein Gesetz verabschiedet worden, das der Regierung unter anderem erlaubt, Medienlizenzen nur für ein Jahr zu erteilen und dann durch ein Kontrollgremium, in dem die Regierung die Mehrheit hat, überprüfen zu lassen, was der Willkür Tür und Tor öffnet. Begleitet von neuerlichen Ausfällen gegen die Presse bereitet die Präsidentin, unterstützt von Ihrem Ehemann, dem Expräsidenten, der weiter mitregiert, nun einen Erlass vor, der den Verkauf von Zeitungen drastisch beschränkt. Nur Kioske sollen das noch dürfen, nicht etwa Tankstellen und andere Läden. Da die Kioske von Moyano und seinen Leuten kontrolliert werden, siehe oben, schließt sich der Kreis. Alle neuen Gesetze und Verordnungen werden mit größter Eile durchgepeitscht, um noch vor Mitte Dezember, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament, nach einer Wahl im Juni, ändern werden, vollendete Tatsachen zu schaffen. Derweil ist die Popularität der Präsidentin auf 23% abgesunken. Man vergleiche mit den 70-80 %, die umsichtige Regierungschefs der Nachbarländer wie Brasilien und Chile errreichen.

Argentinien will sich, wenn es 2010 Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, als Heimatland der Literatur und des Lesers präsentieren. Wenn die Pressfreiheit weiter so eingeschränkt wird, dürfte dieses Bild erhebliche Kratzer erleiden. Die Messeverantwortlichen sollten schon jetzt genau hinschauen. Argentinien nimmt den Frankfurter Auftritt sehr wichtig, zumal die Popularität des Landes, das sich mit seiner intransigenten Politik, z.B. in der Frage der Auslandsschulden, international immer mehr isoliert, ständig sinkt. Die Vorbereitung des Messeauftritts ist in Buenos Aires dementsprechend personell hoch aufgehängt. Ein kritisches Wort von deutscher Seite würde vielleicht Gehör finden.

31. Oktober 2009

Noquis



So schreiben sich die italienischen Kartoffelklößchen gnocchi in Argentinien. Sie sind hier aber nicht nur eine beliebte Pasta. Zäh wie gnocchi am Tellerand kleben viele Angestellte des überdimensionierten Verwaltungsapparates von Buenos Aires an ihren Stühlen, und so haben sie ihren Spitznamen ñoquis in den Augen der von Bürokratie geplagten Porteños verdient.

Vorgestern war ein trauriger Tag für alle, die auf eine straffere und effizientere Verwaltung gehofft hatten. Forsch hatte Bürgermeister Mauricio Macri bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahren angekündigt, er werde energisch gegen die ñoquis vorgehen, sah man doch viele von ihnen kaum je an ihrem Arbeitsplatz, außer am Zahltag. Mit 20.000 bezifferte Macri die überflüssigen Angestellten und versprach, jeden Arbeitsplatz zu überprüfen, denn Buenos Aires leistet sich eine Verwaltung, die dreimal so groß wie die von Paris ist, aber weit weniger effizient. Die Straßen sind schmutzig, die Krankenhäuser und Schulen zum Teil in desolatem Zustand, jeder Verwaltungsakt dauert endlos.

Zermürbt zwischen einer ihm feindlich gesonnenen Zentralregierung, die nichts unversucht lässt, jede unbequeme Maßnahme des Chefs der Capital Federal zu hintertreiben und den in Argentinien allmächtigen Gewerkschaften, musste Macri nun klein beigeben und 17.000 ñoquis vertraglich eine permanente Beschäftigung zusichern. Von 118.000 auf 135.000 (!) hat sich die Zahl der städtischen Dauerbeschäftigten damit erhöht. Die tramites, die notwendigen Erledigungen bei Behörden, werden so langwierig und frustrierend bleiben wie eh und je, doch die Porteños werden sie weiter mit einem Achselzucken hinnehmen.

Die Zeitung La Nación hat den tramites eigens eine Artikelserie gewidment und Bürger befragt, wiewiele Stunden sie in Warteschlangen vor Behördenschaltern verbringen. Monate auf nötige Papiere warten zu müssen ist schon fast die Regel.

Karikatur: La Nación, 13.7.2009

29. Oktober 2009

Día del Café


Beinahe hätte ich ihn verpasst, doch nach fast vier Wochen Perureise, über die ich noch berichten werde, kam ich vorgestern noch rechtzeitig zurück, um am diesjährigen Día del Café teilzunehmen.

Nach dem Tag des Anwalts und dem des Lehrers, ist der Tag, an dem Buenos Aires seine einzigartige Café-Kultur feiert, eine vergnügliche Abwechslung. Alle Traditionscafés im Stadtzentrum bieten etwas Besonderes, und ich habe die Qual der Wahl. Allein in meiner Straße, der Avenida de Mayo, ringen drei besonders pittoreske Kaffeehäuser um Aufmerksamkeit. Soll ich vor dem jungendstilschönen Café Tortoni Schlange stehen, um zwei Tassen cafecito zum Preis von einer zu ergattern oder lieber im Billardcafé Los 36 Billares bei mir schräg gegenüber eine Tangoshow ansehen? Ich entscheide mich schließlich für das Café Iberia, das zwar im Ambiente kaum noch etwas von seiner Vergangenheit als Treffpunkt spanischer Antifaschisten ahnen lässt, sich aber heute mit einem Flamencoabend ganz spanisch gibt.

Alle Cafés sind proppenvoll, und das beileibe nicht nur mit Touristen. Wohl jeder Porteño hat sein besonderes Stammcafé, in das er mindestens einmal am Tag für einen kurzen Schwarzen einkehrt. Diese Institution des Stadtlebens von Buenos Aires verdankt sich den italienischen Einwanderern, und so ist der Kaffee immer vorzüglich, stark, aromatisch und heiß.

29. September 2009

Wechselbäder

Am gestrigen grauen Spätwintersonntag, an dem ein eisiger Wind direkt aus Patagonien herzuwehen schien, machte ich mich zu zwei Zielen in Buenos Aires auf, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Am äußeren Rand der Capital Federal, wie sich das eigentliche Stadtgebiet von Buenos Aires nennt, im Barrio Nuñez liegt an der sechsspurigen Stadtachse Avenida del Libertador in einem weitläufigen Park eine Gruppe älterer Gebäude. Escuela de Mecanica de la Armada steht über dem mächtigen säulenbewehrten Hauptportal. In der berüchtigten Ausbildungsstätte der Marine, der Ex-ESMA, in der die Militärs in den achtziger Jahren Regimegegner gefangen hielten und folterten, wird heute getanzt. Weit hinten in einem der kleineren Gebäude ist der Espacio Cultural Nuestro Hijos untergebracht, das Kulturzentrum der Madres de la Plaza de Mayo, zur Erinnerung an die in der Militärdiktatur verschwundenen Söhne und Töchter.

Aus Sturm und Regen rette ich mich in die Eingangshalle in Erwartung von Jubel, Trubel und Heiterkeit beim 2. Festival Argentina Negra. Das Fest der Argentinier mit afrikanischen Wurzeln will aber nicht so recht in Gang kommen. Abends soll es Candombe geben, den Tanz der Schwarzen Brasiliens. Jetzt am Nachmittag muss ich mich mit einer kleinen Fotoausstellung über Tanzgruppen aus Cap Verde, Senegal und Brasilien, einem recht abgehangenen französischen Film über die Kolonialzeit in Westafrika und einem Verkaufsstand mit Trommeln und Holzmasken begnügen. Außer hinter den Verkaufstresen sind afrikanische Gesichter in der Minderzahl. Die rund 50 Festbesucher scheinen sich eher aus dem Umkreis der Madres, heute eine dezidiert linksperonistische politische Bewegung, zu rekrutieren.

So nehme ich bald einen colectivo stadteinwärts bis zum Palacio Errazúriz, dem Prachtbau im französischen Belle Epoque-Stil, ebenfalls an der Avenida del Libertador, aber in vornehmer Abgeschiedenheit des Barrio Parque gelegen. Das ehemalige Wohnhaus eines chilenisch-argentinischen Diplomaten und heutige Museo de Arte Decorativo öffnet sich für einen Abend der Opera Baroca. Im Musiksaal zwischen Gobelins, pseudogotischen Fenstern und geschnitzten Türen unter riesigen Bronzekronleuchtern gibt die junge Truppe Compañía de las Luces Szenen aus Glucks Iphigenie in Aulis und Rameaus Castor und Pollux mit großer Spielfreude und kultiviertem Gesang zum Besten. Der gewaltige Sandsteinkamin dient als Hölle. Jupiter schreitet die Wendeltreppe am Ende des Saals hinunter, und das kleine Orchester mit seinen historischen Instrumenten sitzt zwanglos vor den für diesen Abend aufgestellten Stuhlreihen. Ein Kammeropernabend vom Feinsten. Passend dazu gibt es in den anderen Sälen eine Ausstellung des französischen Bildhauers Houdon mit der Marmorbüste von Sophie Arnould, die weiland in Paris Rameau gesungen hat. Die argentinische Begeisterung für alles Französische kennt keine Grenzen. Am Wochenende davor strömten Hunderte zusammen, und defilierten durch die für einen Tag der Öffentlichkeit zugänglichen Prachträume der französischen Botschaft.

Solche Wechselbäder an einem Nachmittag und Abend zu erleben, ist in Buenos Aires kein Kunststück.

27. September 2009

Tschingderassabumm!

Am runden Seitenplatz unter meinen Fenstern ist viel los. Dr. Mariano Moreno, seiner Zeit in der Unabhängigkeitsbewegung aktiv, Gründer der ersten argentinischen Zeitung sowie der Nationalbibliothek und Vater von vierzehn Kindern, hat Geburtstag.

Ein Lautsprecherwagen fährt vor dem Bronzedenkmal Morenos vor und prüft die Akustik, dann marschieren sie an. Pünktlich um 11.00 treffen drei Formationen dekorativ bekleideten Militärs ein. Blech blitzt auf. Militärmusik schmettert über den Platz. Ansprachen folgen. Eine männliche Stimme beginnt, eine weibliche folgt, für mich durch das frühlingshaft sprießende Grün der Bäume im Vordergrund verdeckt. El Doctor schallt es herauf, la patria, la Argentina und la Avenida de Mayo. Darauf spielt und singt das Musikkorps die Nationalhymne: Libertad, libertad, libertad! Aus silberner Trompete ertönt ein Solo für Mariano Moreno. Der sitzt derweil entspannt und ziemlich zivilistisch auf seinem Sockel. Dann noch ein fröhlicher Tusch, und alles ist vorbei. Der zackige Abmarsch verzögert sich etwas, weil von rechts aus der Avenida de Mayo die erste piquete - Demo - des Tages Richtung Kongress aufmarschiert. Grüne und lila Protestbanner stehen, zumindest farblich, gegen Khaki und Preußisch Blau.

Während meines Hierseins erlebe ich schon die zweite militärische Ehrung für Mariano Moreno. Sicher gibt es eine ganze Abteilung in der Armee, die ständig auf den Beinen ist, um all den bedeutenden Bronzefiguren der argentinischen Vergangenheit ein Ständchen zu geben.

18. September 2009

Tan cerca, tan lejos

So nah und doch so fern, sagen Argentinier, wenn man einander kaum wahrnimmt, obwohl man gar nicht fern ist. Sich selbst und ihre Literatur sehen sie gerne im Zentrum und vor allem nahe an Europa. Sie ahnen nicht, dass ein anderer, der sich ebenso im Zentrum wähnt, ihre und andere lateinamerikanische Literaturen kurzerhand an die Peripherie verweist.

Bei einem der vielen fliegenden Buchhändler, die Buenos Aires’ Straßen säumen, fiel mir die englische Ausgabe von Orhan Pamuks Other Colours in die Hand. Diese ärgerliche Buchbindersynthese versammelt kurze Gelegenheitstexte, Ansprachen, Vorwörter, die ihren Anlass mit rhetorischen Verbeugungen vor dem jeweiligen Publikum und unbeholfenen Einschüben nach der Art Wie ich oben schon ausgeführt habe nicht verleugnen können. Hier huldigt Pamuk einem Eurozentrismus, den sich wohl heute nur noch ein Autor so unverblümt und mit so schulmeisterlichem Zeigefingergestus erlauben kann, der selbst vom Rand Europas kommt und sich nichts glühender zu wünschen scheint, als dazugehören.

So fertigt Pamuk seinen Kollegen, den Peruaner Mario Vargas Llosa, auf ein paar Seiten unter dem Etikett Dritte Welt-Literatur ab und wundert sich, warum ein anderes Entwicklungsland – Argentinien – einen weltweit beachteten Schriftsteller wie Jorge Luis Borges hervorbringen konnte. Das Gerangel um den Platz in einem wie auch immer definierten Zentrum kann geradezu komische Formen annehmen, käme es bei Pamuk nicht so überheblich und humorlos daher.

17. September 2009

Säulenheiliger

Tomás Eloy Martínez, argentinischer Erfolgsschriftsteller, möchte seine Landsleute für Elias Canetti begeistern. Alles gefällt ihm an dem europäischen homme de lettre, nur mit Canettis Urteil über den argentinischen Nationaldichter Jorge Luis Borges ist er nicht einverstanden. Hatte doch Canetti sich erdreistet, zu vermuten, Borges sei der Nobelpreis für Literatur nicht nur wegen seiner umstrittenen Haltung zu den Militärdiktaturen Argentiniens und Chiles versagt geblieben. Er habe ihn nicht bekommen, denn seine Literatur sei gut geschrieben, aber trivial und oberflächlich wie ein Schachspiel. Wie kann ein Mann wie Canetti so falsch urteilen, fragt sich Eloy Martínez fassungslos.

Wer so etwas auch nur zu denken wagt, bekommt in Argentinien als ernstzunehmender Intellektueller kein Bein auf den Boden. Argentinier haben eine Schwäche für Heiligenverehrung. Da reiht sich Borges in die Phalanx der Idole wie Tangokönig Carlos Gardel, Peronistenstar Evita Perón und Fußballgott Diego Maradona nahtlos ein. Man bewundert nicht nur gerne, man wird auch gerne bewundert, für all die spitzenmäßigen Heroen. Kaum ein Artikel über Literatur und selbst über viele andere Themen kommt ohne ein Borges-Zitat aus. Was immer der blinde Visionär, als der Borges in den argentinischen Pantheon eingegangen ist, gesagt oder geschrieben hat, es ist heute, gut 20 Jahre nach seinem Tod, jeder kritischen Betrachtung entrückt. Selbst Goethe könnte ob soviel Weihrauchs neidisch werden.

16. September 2009

Tag des Lehrers

In der Flut argentinischer Gedenktage ragt er heraus. Der día del maestro am 11. September ist nicht nur Anlass, einmal mehr über das Schulwesen und den Bildungsstand der Schulkinder nachzudenken. Er soll auch ein Freudentag für die geplagten Lehrer sein. So werden besonders verdiente Lehrer von der Kommune ausgezeichnet. Auch ist es Sitte, der Lehrerin oder dem Lehrer ein kleines Geschenk zu bringen.

So weit, so gut. Etwas fragwürdig wird die Sache, wenn sich, wie in diesem Jahr geschehen, die Lehrer beklagen, die Kinder brächten nicht mehr genug Geschenke mit und die Schuld dafür beim Desinteresse der Eltern suchen. Ein Erziehungswesen, das geradezu auf kleine Aufmerksamkeiten zu bauen scheint, stimmt wenig optimistisch. Noch weniger in einer Gesellschaft, in der die persönliche Beziehung zum Vorgesetzten, zum Mann oder der Frau hinter dem Schalter oder wer immer einem eine Gunst erweisen könnte, der Sachorientierung den Rang abläuft und in der das do ut des zum normalen Umgang miteinander gehört. Wäre es nicht vielversprechender, die Schulen so auszustatten und die Lehrer so auszubilden und zu bezahlen, dass ihr Arbeitsumfeld sie auch ohne diese kleinen Gaben der Schüler zufriedenstellt?

8. September 2009

Im Modus irrealis I

Literatin Vlady Kociancich zuckt die Achseln. Sie kann einem Engländer nicht erklären, was der Unterschied zwischen phantastischer Literatur und magischem Realismus ist. Solche vermeintlichen Spitzfindigkeiten sind für einen argentinischen Literaturbegeisterten etwas ganz Normales. Eine Erzählung, in der eine längst verstorbene Dichterin auftaucht ohne dass irgendjemand das merkwürdig findet, ist es ebenso. Denn die phantastische ist in Argentinien die normale Literatur, so Kociancich.

Wir wollen ihr das gerne glauben. Ist es nicht im Leben ähnlich? Auch die Politik setzt sich mit Nonchalance über Plattheiten wie Glaubwürdigkeit und Folgerichtigkeit hinweg. Und im Alltagsleben nehmen Argentinier die schöne Absicht, das eloquent vorgetragene Wollen und Wünschen ebenso gerne für die Tat. Dass sie oft nicht folgt, wen kümmert es. Morgen ist ein anderer Tag und der ist weit weg. Nicht umsonst sind das spanische Wort für Freude und Hoffnung und das deutsche für Einbildung gleichlautend: ilusión/Illusion. Nur plumpe Nordländer gerieren sich als Spielverderber und erwarten, was angekündigt oder zugesagt wurde, habe auch zu geschehen.

Wenn es selbst Argentiniern zu phantastisch wird und sie ihre Landeschefin ironisch Ankündigungspräsidentin betiteln, ist etwas faul im Staate Argentinien. Was hat Cristina Kirchner nicht alles angekündigt, den tren bala, einen nagelneuen, komfortablen Hochgeschwindigkeitszug, die Ausstattung aller Stadtbusse mit praktischen Magnetkarten in drei Monaten (das war etwa vor einem Jahr) und und und.

Ich gewöhne mich allmählich daran. „Morgen gehen wir zusammen ins Kino“, „Ich schicke Ihnen das Buch umgehend.“ Wie liebenswürdig, wie menschenfreundlich und wie verführerisch, denn tun wird man natürlich nichts von alledem. Hören Sie genau hin. Wenn etwas mit einem sin falta / unbedingt bekräftigt wird, könnte es vielleicht passieren und vom modus irrealis in den modus realis übertreten. Wenn das nur nicht überhand nimmt, denn wo fände dann all die schöne phantastische Literatur ihren Nährboden?

29. August 2009

Von Singapur lernen ?

La Nacion-Korrespondent Andres Oppenheimer war in Singapur. Dort hat er Unerhörtes erlebt: Schulen, die funktionieren, Schüler, die zu Spitzenleistungen ermuntert werden, eine Wirtschaft, die auf dem Potential ihrer gut ausgebildeten Bürger aufbaut. Was bringt er mit zurück nach Argentinien? Bessere Ausbildung ja, aber bitte nicht so, nicht so konsequent und rigide wie in Singapur, ist sein Fazit. Einmal mehr also eine große Klage und eine halbherzige Schlussfolgerung. Man will das Ergebnis, aber scheut die Anstrengung. Argentinier kennen die Missstände im eigenen Land nur zu gut. Mit der Abhilfe tun sie sich allerdings schwer. Noch gehören sie innerhalb Südamerikas zu den besser Ausgebildeten. Aber wie lange noch, fragt man in den Zeitungen bang. Die ohnehin angesichts vieler Feiertage und langer Ferien wenigen Unterrichtstage an den Schulen werden durch regelmäßige Streikwellen der unterbezahlten und überforderten Lehrer, die sich auf die Unterstützung durch starke Gewerkschaften verlassen können, weiter gemindert. Das aktuelle Schuljahr konnte wegen eines Streiks erst gar nicht pünktlich anfangen. Die Ausstattung der öffentlichen Schulen und der Zustand der Unterrichtsräume und Sanitäreinrichtungen ist oft erbärmlich. Graffiti beschmierte Wände sind normal. So wandern immer mehr Eltern, die es sich leisten können, mit ihren Kindern in private Schulen ab, was die öffentliche Schulbildung noch mehr aushöhlt. Ein Teufelskreis.

Auch ist die Abneigung gegenüber technischen Berufen groß. Berufsschule und Lehre sind unbekannt. Am liebsten wird man Anwalt. Vier Juristen kommen auf einen Ingenieur. Die Rechtsfakultät im Stadtbezirk Palermo ist ein Wahrzeichen von Buenos Aires. Das eindrucksvolle Gebäude im Stil des Historismus mit seinem riesigen Säulenportikus belegt auch baulich, wie wichtig man die Rechtsausbildung nahm und nimmt. Daraus sollte aber nicht der Schluss gezogen werden, dass die Justiz wirklich unabhängig ist. Der Richterwahlausschuss ist fest in der Hand der Kirchneristen. Hohe Richter beklagen sich immer wieder über Pressionen aus der Politik. In Verwaltung, Politik und selbst Wirtschaft wimmelt es jedoch von abogados , von Anwälten. Mehr als 70.000 soll es in Buenos Aires geben, und heute, am 29. August haben sie ihren eigenen Tag, den día del abogado.

Wie der Erziehung aufhelfen, wenn Fußball wichtiger ist als Schule? Gerade wurden 600 Millionen Pesos (ungefähr 110 Millionen Euros) aus dem Staatssäckel für die kostenlose Ausstrahlung von Fußballspielen im Fernsehen abgezweigt. Veranschlagte Mittel für Erziehung und Soziales wurden dagegen gekürzt oder ihre Ausgabe verschoben.

Protestissimo Argentino

Ende der Rückblende auf stille Tage in Siebenbürgen und Szenewechsel zurück nach Buenos Aires, von wo ich in den nächsten Wochen berichten werde.

Ein neues Mediengesetz steht in Argentinien vor der Verabschiedung, das dem Staat, sprich dem regierenden Ehepaar Kirchner – Cristina aktuelle Präsidentin, Nestor Expräsident mit weiterhin entscheidendem Einfluss auf die Regierungspolitik – mehr Kontrolle über die Medien verschaffen wird. Machen die Kirchners doch vor allem die Presse für ihre Wahlschlappe vom Juni verantwortlich. In guter peronistisch-populistischer Tradition regiert man gerne mit der Straße. So intensiviert sich in diesen Tagen der in Buenos Aires geradezu ritualisierte Straßenprotest. Am Donnerstag fand so etwas wie der Welttag der Piquete statt, und ich habe an meiner strategischen Straßenecke wieder einmal einen Logenplatz.

Von links aus der Calle Hipolito Yrigoyen zieht ein Trupp weiß Bekittelter heran. Es ist nicht auszumachen, ob es sich um Schüler oder Krankenhauspersonal handelt, denn die Uniform für Lehrer und Schüler ist in den staatlichen Schulen ein recht unkleidsamer weißer Kittel. Mangels Trommeln machen die Demonstranten mit rhythmischem Klatschen auf sich aufmerksam. Gegen Mittag bekommen sie Verstärkung von Los Pibes / Die Jungen. Das ist wohl eine Jugendorganisation der regierenden Peronisten (PJ), denn ich habe die Pibes sich bei anderer Gelegenheit im Stadtteil La Boca vor dem PJ-Parteilokal sammeln sehen.

Gegen 17.00 schließlich der Höhepunkt des Protesttages. Aus der Avenida de Mayo bewegt sich ein Zug mit Schildern, die ihn als Polo Obrero - ein Sammelbecken von Arbeiterverbänden -
ausweisen, auf das Kongressgebäude zu. Vom mitgeführten Lastwagen mit Lautsprecher herunter skandiert eine Frauenstimme Parolen. Ein Meer von Hellblau und Weiß bietet sich dem Auge aus der Vogelperspektive. Viele haben sich die argentinische Flagge als Mantel um die Schultern gehängt. Schließlich nähert sich bandwurmgleich ein Zug, dessen Teilnehmer die Nationalflagge zwischen sich tragen. Eine schier endlose Flaggenschlange windet sich von der Ecke Avenida de Mayo und Calle Pte. L. Saenz Peña den Platz entlang bis zum Monument vor dem Kongress. Sie hätte gute Chance, in das Guinness Buch der Rekorde aufgenommen zu werden. Bei allen Protestmärschen, selbst von anarchistischen und trotzkistischen Splittergruppen, ist die Nationalflagge dabei. Argentinier beklagen oft, ihre Landsleute hätten nicht genug Nationalgefühl. Die Protestfolklore widerlegt diesen Eindruck. Gegen 19.00 trifft hinten am Kongress ein weiterer Zug ein, aus westlicher Richtung, aus der Avenida Rivadavia. Erst mit Einbruch der Dunkelheit geht dieser Protesttag zu Ende.

Bildnachweis: Piquete-Karikatur: La Nacion, 1.9.2009

28. August 2009

Stille Tage in Siebenbürgen - Landpartie 2

Kirchenburgen-Hopping macht hungrig und durstig. So klopft meine landes- und sprachkundige Tochter einfach an einem Hoftor in Deutsch-Weißkirch. Ihr wird aufgetan. Wir betreten einen der üppig mit Blumen und Weinranken eingewachsenen Höfe, auf die ich schon während der Fahrt sehnsuchtsvolle Blicke geworfen hatte. Die Bauersfrau kommt mit einem hoch beladenen Karton heraus. Große Überraschung: Sie bringt unser (vorbestelltes) Picknick. Gegenüber sehen wir einen der Ziehbrunnen mit dem hohen hölzernen Pumpenschwengel, wie man sie von Puszta-Bildern kennt. Unterwegs hatten wir Frauen an einem Bach Wäsche waschen gesehen. Die Dorfidylle muss wohl vorerst noch ohne fließendes Wasser auskommen.

Nach halbstündiger Fahrt auf Landstraßen und Feldwegen biegen wir bei Malmkrog in einen Park ein und landen vor einem frisch renovierten in gelb und weiß leuchtendem Herrenhaus. Es gehörte früher der Familie Apafi, deren Spuren wir in den Kirchen von Birthälm und Malmkrog begegnet waren. Hier auf einem Steintisch unter alten Bäumen ist der rechte Platz fürs Picknicken. Nur das Getränk fehlt noch. Auch dafür gibt es Abhilfe im Apafi-Anwesen. Vorbei an Wiesen voller Apfelbäume schlendern wir zu einem Schuppen mit Paletten davor. Hier wird der naturtrübe, köstlich säuerliche Apfelsaft hergestellt, den es in Hermannstadt im Restaurant gibt. Der junge Manager will offenbar nicht Rumänisch angesprochen werden. Barsch fordert er uns auf, mit ihm Englisch oder Deutsch zu reden. Sicher ist er bannig stolz darauf, ein Vertreter des Mihai Eminescu Trusts (MET) zu sein. Diese englische NGO hat es sich - mit allerhöchstem Segen von Prinz Charles - zur Aufgabe gesetzt, die gewachsene ländliche Struktur Siebenbürgens zu erhalten. So hilft man, Häuser zu restaurieren und fördert kommerzielle landwirtschaftliche Initiativen nach dem Muster Hilfe zur Selbsthilfe. Namensgeber ist der rumänische Schriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts, ein nationalkonservativer Romantiker. Auf Anregung und Anschubfinanzierung des Trusts geht sowohl die Zubereitung von Picknicks für Touristen als auch die Erhaltung alter Apfelsorten zurück. Die Apafi-Villa hat man gekauft und als Gästehaus hergerichtet. In Dörfern wie Deutsch-Weißkirch und Malmkrog hängt an vielen der hübsch hergerichteten Bauernhäuser das Schild des Trusts. Der Apfelsaft-Manager reicht uns an einen Mitarbeiter weiter, der uns herumführt. 30.000 Flaschen können sie in diesem Jahr abfüllen, aus der Ernte von 80 Hektar Apfelbäumen mit alten Sorten wie verschiedenen Renetten, Goldparmänen und Boskop. Im nächsten Jahr sollen es mehr werden. Man habe erst vor einem halben Jahr vom vorigen Manager übernommen und hoffe den Ertrag der teilweise verwilderten Bäume noch verbessern zu können.

Für den Nachmittag steht dank dem Trust und Sophies Findigkeit eine weitere Überraschung auf dem Programm. Zurück in Deutsch-Weißkirch halten wir vor einem zartgrün angestrichenen Gehöft, vor dem ein Pferd mit Fohlen weidet. Bauer Mihai kommt heraus und spannt die Stute Codruta vor einen offenen Holzwagen. Wir steigen ein und los geht’s durch die stille Bauernlandschaft, durch Alleen und über Felder. Das Fohlen läuft mit. Ziel ist in einem Wäldchen nahe beim Dorf die Ziegelei, ein weiteres MET-Projekt. Schon in alter Zeit hat es hier eine Ziegelei gegeben. Nun ist die Handwerkstechnik wiederbelebt worden. Ein wettergegerbter Mittfünfziger mit lebhaften schwarzen Augen empfängt uns und zeigt uns, wie hier Lehmziegel mit einem Holzmodel von Hand hergestellt und in den Kammern des Brennofen gebrannt werden. Wir klettern auf den Ofen und schauen von oben auf die geschichteten Ziegel. 4 Tage müssen sie brennen – währenddessen muss das Holzfeuer ständig unterhalten werden – und einen Tag auskühlen. Ewa 10% ist Ausschuss. 5.000 Ziegel passen in den Ofen. Abnehmer ist hauptsächlich der Trust für seine Bauprojekte. Im Umland ist alles vorhanden, was es braucht, guter Lehmboden und Wassser für die Ziegelherstellung und Holz fürs Brennen. Vom Mai bis zum Oktober arbeitet der Mann mit einem Sohn in der Ziegelei. Im Winter sammeln und verkaufen sie Holz. Die Familie sitzt vor dem Ziegelhaus mit Spitzdach daneben, in dem sie wohnt. Man habe sogar Fernsehen, versichert der Ziegelbrenner. Als er erfährt, dass wir Deutsche sind, sagt er verschmitzt: Die Deutschen sind weggegangen. Jetzt sind wir da. Wir, meint er damit Rumänen oder Roma? Was soll's! Das Ziel des Trusts, in den Dörfern eine lebendige Wirtschafts- und Sozialstruktur zu erhalten und auszubauen, mit Sachsen, Rumänen und Roma, zumindest in Deutsch-Weißkirch und Malmkrog scheint es erreicht zu sein. Wir setzen uns im Dorf noch mit unserem restlichen Picknick unter Bäumen vor Mihais Hof auf eine Bank und genießen das friedliche Bild, mit dem Wasserlauf in der Mitte, der Zeile der pastellfarbenen Gehöfte gegenüber und den Dörflern, die von der Arbeit nach Hause kommen. Vor einem Holztor stapft ein kleines Mädchen mit einer Puppe vorbei, die fast so groß ist wie es selbst. Mihai fährt mit seinem Wagen davon. Hier könnte ich sitzenbleiben und die Zeit verschlafen. Vielleicht würde ich dann wie Rip van Winkle in einem anderen Jahrhundert aufwachen und nichts mehr wiedererkennen.

Unsere letzte Station am Ostrand von Transsilvanien im Szekler-Land ist das Dorf Zabala/ Zabaia bei Covasna. Die ungarischen Höfe prunken mit geschnitzten Holztoren, auch über der Straße gibt es einen Bogen mit Holzschnitzerei. Sommerblumen blühen verschwenderisch an den Wegrainen. Auch hier gib es eine Wehrkirche, aber eine kalvinistische, denn viele Szekler folgten im 16. Jahrhundert dem Genfer Reformator, wohl auch um sich von den lutheranischen Sachsen zu unterscheiden. Wir fahren durchs Dorf bis zu einem altersschwachen Holzgatter, von dem eine Allee ausgeht. Vorbei an einem Teich und einer Pferdekoppel landen wir vor einem fast zwischen Bäumen verborgenen Gebäude. Das ehemalige Maschinenhaus des Landsitzes der ungarischen Adelsfamilie Mikes haben die Nachkommen zu einem hübschen kleinen Landhotel ausgebaut. Alte Holzdielen, ein Salon mit Kamin, geräumige Zimmer in der ersten Etage , sparsam mit antiken Möbeln ausgestattet und mit Blick in den Park, ein schmackhaftes ungarisch angehauchtes Abendessen. Sogar einen geheimen Gang zwischen dem Herrenhaus das gerade renoviert wird und einem weiteren Gästehaus gibt es, in dem die Gäste der Besitzer von ehedem trockenen Fußes ins Schlösschen gelangen konnten. Ein romantischer Abschluss meiner Landpartie durch Siebenbürgen.

Auf dem Rückweg entlang der durch Felder und Wiesen mäandernden Alt/Olt eine allerletzte Station bei Freck/Avrig, schon fast vor den Toren von Hermannstadt, im Park der Sommerresidenz Samuels von Brukenthal. Diese nach Ansicht von Cornelia Feyer, der deutschen Landschaftarchitektin, die über den Park geschrieben hat und sich um seine Wiederherstellung bemüht, bedeutendste barocke Gartenanlage in Südosteuropa schwankt noch zwischen neuem Aufschwung und sichtlicher Vernachlässigung. Es ist wohl auch ein gigantische Aufgabe, das dreiflüglige Herrenhaus und den in Terrassen abfallenden riesigen Garten zu restaurien und zu erhalten. Kommerzielle Nutzung liegt nahe. Von einem Wellness Hotel war die Rede. Aber wäre das im Sinne von Brukenthal, der schon damals den Park öffentlich zugänglich gemacht hatte, fragt Beatrice Ungar. Die Orangerie und eine Blumenrabatte davor sind immerhin schon in Stand gesetzt. Auch einige Blickachsen sind freigelegt. Die Beschließerin, die schon Jahrzehnte dort arbeitet, zeigt uns die Orangerie. Den Saal hat man bereits hergerichtet und vermietet ihn nun für Hochzeiten und andere Veranstaltungen. Gerade erwartet man eine Konferenz von Zeugen Jehovas. Wenn Hermannstädter Honoratioren etwas feiern wollen, haben sie jetzt ein repräsentatives Ambiente zur Verfügung. Das letze Stück Weges auf der Hauptstraße bringen wir ohne Schaden hinter uns und sind recht froh, heil zuhause zu landen. Die neu gewonnene Freiheit schließt bei vielen Rumänen die souveräne Verachtung der Verkehrsregeln ein.

An meinem letzten Tag kaufe ich eine Furcht einflößende Holzmaske mit wildem Haar und Bart aus Schafwolle. Zum Winteraustreiben im Januar werden solche Masken noch alljährlich beim Urzenlauf getragen. Die Basler Fassnacht lässt grüßen. Von lebendigem Brauchtum ist in Hermannstadt viel die Rede. Ende August gibt es ein großes Kunsthandwerk- und Folklore-Festival. Wie weit das noch die Jungen anspricht, kann ich in der kurzen Zeit nicht herausfinden. Jedenfalls scheint das Brauchtum mit dem Rock-Festival und anderen zeitgeistigen Events auf der Piata Mare eine Koexistenz einzugehen. Auf meiner Zeitreise bin ich wieder in der Gegenwart angekommen.

Anmerkung: Treffen mit Siebenbürger Sachsen und Rumänen kann man sich in Berlin, Nürnberg und Heilbronn beim www.siebenbuergen-stammtisch.de . Dort auch mehr Informationen zu Land und Leuten.

Bildnachweise:
Holztür: Copyright Razvan Voiculescu
alle anderen: Mateo Urquijo




27. August 2009

Stille Tage in Siebenbürgen - Landpartie 1

Meine Reise nach Siebenbürgen ist eine Reise in die Stille. Umso mehr als ich aus Buenos Aires komme, einer Stadt, die niemals schläft und ihre ganz eigene Geräuschkulisse hat. Für zwei Tage fahren wir übers Land, durch deutsches, rumänisches und ungarisches Siedlungsgebiet. Besonders im Gebiet der Szekler, dem ungarischen Stamm, dessen Herkunft sich im Dunkel der Geschichte verliert, entfaltet sich bäuerliches Leben, wie wir es nur noch aus Kinderbüchern oder historischen Darstellungen kennen. Am Rande Europas machen wir eine Zeitreise ins 19. und frühe 20. Jahrhundert. Störche nisten auf Kirchtürmen. Hinter den breiten, oft reich geschnitzten Toren der farbenfreudig angestrichenen Bauernhäuser ahnen wir Küchengärten unter Weinlauben. Pferdewagen bringen die Ernte auf holprigen Alleen ins Dorf. Ein Junge treibt eine Gänseschar vor sich her. Das Heu wird von Hand mit der Mistgabel aufgeladen. Am Straßenrand sitzen Frauen und verkaufen Kürtöskalacs, das zylinderförmige, ungarische Gebäck, das am Spieß über Feuer gebacken und dann in Zimt, Kokos ode anderem Süßem gerollt wird, und allerlei Eingemachtes. Eine Gruppe von Romas mit hohen schwarzen Kappen ist mit dem Eselwagen unterwegs.

Eingebettet in diese Bilderbuch-Landschaft sind die Kirchenburgen. Einige der Wehrkirchen Siebenbürgens haben es mit ihrer einmaligen Verbindung von Kirche und schützendem Mauerring auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes gebracht. Der Name Siebenbürgen wird mir hier erst anschaulich. Die sieben Stühle mit ihren Burgen vereinigten sich zu dieser Provinz, der es bis in die Zeit der kommunistischen Herrschaft gelang, eine gewisse kommunale Eigenständigkeit zu bewahren. Die Landwirtschaft war noch in jüngster Zeit in den Nachbarschaften genossenschaftlich organisiert, bis zur gemeinsamen Dorfkasse für Feste und Beerdigungen. In den Kirchenburgen fand die Gemeinde in früheren Jahrhunderten Schutz vor den Türken- und Tatareneinfällen. Eine Karte verzeichnet mehr als 40 noch bestehende Kirchenburgen im Einzugsgebiet von Hermannstadt, Schäßburg und Kronstadt. Unmöglich, auch nur die schönsten in den zwei Tagen anzuschauen. So beschränken wir uns auf eine Auswahl zwischen besonders großen, typischen und kleineren, idyllisch abgelegen Wehrkirchen.

Zum Auftakt eine Unesco-geadelte Kirchenburg: Auf einem Hügel direkt hinter dem Gasthof Sachsenbischof gelegen, ist die Kirche von Biertan/Birthälm ein echtes Schau-ins-Land. Durch einen gedeckten Gang klettert man zur Kirche in ihrem doppelten Mauerring hinauf. Der Innenraum ist voller Schätze aus Hoch- und Spätmittelalter und früher Neuzeit: Aus Wien und Nürnberg kamen die Künstler, die im 15. Jahrhundert den prächtigen Flügelaltar gestalteten. Das Lindenholzschnitzwerk des Chorgestühls ist das Werk einheimischer Bildhauer aus Schäßburg. Eine Rarität das Sakristeiportal mit seiner spätgotischen Sandsteineinfassung und dem ausgeklügelten Schloss auf der Innenseite. Die Steintafel mit lateinischer Inschrift, die man bei Birthälm im Wald fand, belegt, dass es hier schon im 4. Jahrhundert Christen gab.
Anders als Birthälm liegt Malancrav/Malmkrog fast versteckt zwischen üppigem Grün in seinem Mauerrringoval. In der Kirche mischen sich Elemente der Hoch- und Spätgotik, der Renaissance und des Barock zu einem harmonischen Gesamtbild. Besonders schön und gut erhalten die Fresken aus dem 14. und 15. Jahrhundert hinter und über dem gotischen Flügelaltar im Chor. Unter der Sakristei ruhen Mitglieder der Grundherren aus der ungarischen Adelsfamilie Apafi, der wir schon in Birthälm, wo ihr Trauben geschmücktes Wappen den Schlussstein des Chorgewölbes bildet, begegnet waren. Sie sollte später noch eine Überraschung für uns bereithalten.

Weiß leuchten uns Mauern und Türme von Viscri/Deutsch-Weißkirch entgegen, als wir vom Dorf her zur Anhöhe der Kirchenburg aufsteigen. Im Pfarrhaus sprechen wir wegen des Schlüssels vor. Eine Bauersfrau begleitet uns durch den Hain mit Kastanien und Linden am Fuß der Burg und schließt mit großem Schlüssel die Tür auf. Bis hinauf in die Turmspitzen können Schwindelfreie auf schmalen Leitern klettern. In den Kammern des gedeckten inneren Burgrings hat man ein volkskundliches Museum eingerichtet. Von der Decke hängt eine Speckseite, vielleicht als Wegzehrung für Besucher? Mitnichten! Sie demonstriert einen Brauch, der noch bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bestand. Im kühlen Wehrgang bewahrten die Bauern der Gemeinde ihren Speck auf. Am Sonntag nach dem Kirchgang schnitt man sich das Stück für die kommende Woche von seiner – nummerierten – Speckseite ab. Der Herr Pfarrer stand daneben und wachte darüber, dass keiner sich heimlich vom Speck des Nachbarn bediente.

Weit vorgeschoben liegt am südöstlichen Rand von Siebenbürgen, im Burzenland, die große Burganlage von Prejmer/Tartlau, eine Gründung des deutschen Ritterordens aus dem 13. Jahrhundert. Wie Birthälm und Deutsch-Weißkirch wurde sie in die Unesco-Liste aufgenommen.Ihre Besonderheit ist die zu einer wahren kleinen Stadt innerhalb der Befestigung ausgebaute 5 Meter hohe und bis zu 14 Meter tiefe Umfassungsmauer. In dieser besonders von kriegerischen Scharmützeln geplagten Grenzlage an einem Pass fand der ganze Ort bei Bedarf in der Wehrkirche Platz und konnte in den rund 300 Kammern der Burg wohnen. Ein ausgeklügeltes System von Gängen über vier Etagen verbindet die Räume. Selbst eine Schule, mit alten Schulbänken, wie aus der Hasenschule möbliert, fand Platz. Über den äußeren Graben führt eine gedeckte steinerne Brücke mit Falltür, deren eiserne Zähne bedrohlich über dem Besucher schweben. Das Städtchen drum herum lässt noch das mittelalterliche Straßenmuster erkennen. Auf einem Dach gegenüber nistet ein Storchenpaar.

Im Kreis Kronstadt ist burgenmäßig überhaupt eine ganze Menge los. Von Weitem sichtbar liegt passend düster auf einer Bergspitze die angebliche Draculaburg Bran, zu deutsch Törzburg. Hier soll Graf Vlad Tepes, der Pfähler, gar nicht gelebt haben. Man konnte ihm die Vampirstory um so leichter andichten, als er schon vom Vater her den Beinamen Draculea hatte, was so viel wie zum Drachenorden gehörig bedeutete. Wir stürzen uns mutig ins Gewühl und finden sogar einen Parkplatz. Vorbei an den Verkaufsbuden mit allem, was das Herz begehrt, von Persianerkappen bis zu Vampir-T-Shirts, windet sich die Kassenschlange. Spanische, englische, französische, rumänische und deutsche Gesprächsfetzen rund herum. Wir kalkulieren, dass wir womöglich eine Stunde brauchen würden, um eine Eintrittskarte für die Burg zu ergattern und verzichten. Trösten können wir uns damit, dass Vlad möglicherweise nie dort war. Das Schloss gehörte zum Bestand von Kronstadt und wurde an die Nachkommen der rumänischen Königsfamilie, einem Zweig der Habsburgs, zurückgegeben, denen die Stadt es 1920 überlassen hatte. Die Royals vermarkten es nun touristisch und wollen es zum Dracula-Museum umgestalten.

Nahebei liegt ausgedehnt und vieltürmig wie eine befestigte Stadt auf einem Bergkegel die weitläufige Burganlage von Rasnov/Rosenau und entschädigt uns für das verpasste Bran-Schloss. Dort klettern wir nun fröhlich herum und werden mit einem herrlichen Ausblick über das waldige Bergland Transsilvaniens belohnt. Burgenliebhaber kommen hier wahrlich auf ihre Kosten. Es gibt eigens einen Lageplan, damit man keinen Winkel versäumt. Auch das erschröckliche Skelett fehlt nicht. Kurz vor dem Ausgang grinst es aus einer glasbedeckten Vertiefung im Boden. Schön gruselig. Unten im Ort Rosenau erholen wir uns vom Burgenerklimmen in einem Gasthaus auf der Holzveranda im Innenhof und probieren rumänische Kuttelnsuppe mit Schmand.

Bildnachweise:
Karte: Hermann Fabini, Cetati Bisericesti in Transilvania. ABF Monumenta. Sibiu 1998
Sakristeitür Birthälm: Die Kirchenburg in Birthälm. Kurze Beschreibung. o.J., o.O
Kirche Malmkrog: Hermann Fabini, Die evangelische Kirche in Malmkrog. Baudenkmäler in Siebenbürgen. H.50. Honterus-Druck Sibiu
Kirche Deutsch-Weißkirch: Hermann und Alida Fabini, Kirchenburgen in Siebenbürgen. Koehler & Amelang. Berlin 1991

Störche, Wehrgang, Schloss Bran: Mateo Urquijo

Stille Tage in Siebenbürgen - Stadtgänge 4





Hermannstadt gilt als das Zentrum der Siebenbürger Sachsen, aber die Stadt ist nur eine unter den Schönen des Landes. Jede hat ihr eigenes Flair. Brasov/Kronstadt ist eleganter, meint Hedda, und Silvia hat es eine Konditorei dort angetan. Größer und lebhafter als Hermannstadt ähnelt Kronstadt, 140 Kilometer östlich, mit seinem alten Rathaus samt Turm am großen Platz Piata Sfatului, den Blumenrabatten und den von Belle Epoque-Häusern gesäumten Avenuen einem verkleinerten Wien. Gegründet wurde es schon im 13. Jahrhundert von deutschen Ordensrittern. Mit 280.000 Einwohnern ist es im Verhältnis zu Hermannstadt eine Großstadt. Salzburg/ Sibiuli/Ocna hatten wir schon auf dem Weg passiert. Der Kurort heißt wie die österreichische Schwester, weil man hier in der Sole baden und für die müden Knochen Erleichterung finden kann.

Am Kronstädter Hauptplatz ist ein riesiger Kran aufgefahren, der für eines der zahlreichen Sommerevents Tribünen aufbaut. Zu einer Seite ragt ein bewaldeter Hügel über dem Platz auf, an dem im Hollywood-Design der Namenszug Brasov prangt. Während man von Hermannstadt weit ins Land guckt, liegt Kronstadt in einem Talkessel. Unter den Sonnenschirmen der Cafés ist fast jeder Platz besetzt. Wir gehen ein paar Straßen weiter zur schwarzen Kirche. Auch hier gotische Strenge und das Gegenüber von Gottes- und Schulhaus wie in Hermannstadt. Neben dem Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt ist das Johannes Honterus-Gymnasium von Kronstadt die wichtigste deutschsprachige Schule Siebenbürgens. In der Kirche, die als größte gotische Kathedrale Südosteuropas ein Touristenmagnet ist, Jubel, Trubel, Heiterkeit, vor allem von rumänischen Ausflüglern. Die Mobiltelefone klingeln, die Kinder spielen, auf den Bänken hält man einen Schwatz. Andachtsvoll dagegen die wenigen Besucher die wir später im Halbdunkel der orthodoxen Kirche an der Piata Sfatului antreffen. Die evangelischen Kirchen werden von den meisten Rumänen wohl eher als Museen, denn als Andachtsstätten empfunden. Sie tragen allerdings mit der Eintrittsgebühr, die in allen Kirchen erhoben wird, obwohl sie weiterhin für Gottesdienste genutzt werden, und den Verkaufständen selbst zu diesem Image bei. Fast wähne ich mich in einer Moschee. Die Wände und Kirchenbänke sind über und über mit türkischen Teppichen behängt, was besonders in der sonstigen Kargheit einer protestantischen Kirche seltsam anmutet. Ich werde den Teppichen noch in vielen Kirchen Siebenbürgens begegnen. Wohlhabende Kaufleute pflegten in früheren Jahrhunderten von Geschäftsreisen in die Türkei Teppiche mitzubringen und sie ihren Gemeinden zu stiften. Wir schlendern durch die Altstadtgassen und flüchten schließlich vor einem Regenguss in die empfohlene Konditorei. Der Kuchen ist vorzüglich, aber die Selbstbedienung und der recht unfreundliche Service lassen keine Wiener Kaffeehaustimmung aufkommen.

Nur kurz halten wir uns im Rothenburg ob der Tauber von Rumänien auf. Das pittoreske Sighisoara/Schäßburg mit seinen steil ansteigenden Gassen, den blumengeschmückten Hutzelhäusern, den Linden bestandenen Plätzen und der Märchenbuch-Burg hoch oben als Krönung mag an einem Frühjahrs- oder Herbsttag reizvoll sein. Jetzt in der hochsommerlichen Ferienzeit platzt es aus allen Nähten. Für Dracula-Fans ist es ein Muss, soll der blutsaugende Graf doch hier geboren sein. Etwas ruhiger wird es in der Klosterkirche. Im 13. Jahrhundert vom Dominikanerorden begonnen, besitzt sie einen Flügelaltar mit einem Gemälde eines Sohnes von Veit Stoss, eines der wenigen Überbleibsel nach einem Brand im 17. Jahrhundert. Mich nehmen vor allem die naiv bemalten Kirchenbänke gefangen. Zunftzeichen verweisen auf die Gewerbe der Kirchenältesten, Bibelsprüche sind wie mit Cartoons illustriert: Aus den Wolken am Himmel kommt die göttliche Hand und leitet den Blinden an einer Schnur. Eine andere hält die Himmelskrone segnend überm Kirchlein. Welche Missstände unter anderem zur Reformation führten, kann man an einem uralten Dokument hinter Glas ablesen. Ein Ablassbrief von der Wende des 13. Jahrhunderts verspricht dem sündigen Käufer Straferlass. In späterer Zeit machte man sich in anderer Weise in der Kirche beliebt. Auch die Schäßburger Klosterkirche ist mit türkischen Teppichen geschmückt. Über den religiösen Hintergrund zumal der Gebetsteppiche, auf denen die Mihrab, die muslimische Gebetsnische, abgebildet ist, sah man großzügig hinweg.

Ganz anders Fogarasch/Fagaras. Diese rumänische Stadt mit dem ungarischen Namen, etwa auf der Mitte zwischen Hermannstadt und Kronstadt, liegt jenseits der Touristenströme. Im weitläufigen Zentrum erhebt sich mächtig die orthodoxe Kathedrale. Die Kuppel ist im Gerüst verborgen. Wird hier neu gebaut oder renoviert? Überall sehen wir orthodoxe Kirchen im Bau, zu viele meint so Mancher. Seit man den Kommunismus abgeschüttelt hat, prosperiert die orthodoxe Kirche und will Zeichen setzen. Wer mag die Riesenbauten füllen? Nur die Älteren gehen regelmäßig in die Kirche, meint Anca. Mitten im Ort, von einem Graben umgeben, steht die Schlossburg mit dicken Mauern und runden Türmen aus dem 17. Jahrhundert, ein Bollwerk in den Türkenkriegen. Allenthalben Wehrtürme, Reste von Stadtmauern, Burgen. Überleben konnten wohl in dem umkämpften Grenzland nur wehrhafte Orte. Am Ortsausgang fahren wir an einer kleinen Kirche ganz aus dunklem Holz vorbei. Sie erinnert an die norwegischen Stabkirchen. Wir haben Zeit, sie zu betrachten, denn eine Kuhherde trottet gemächlich des Wegs. Der Höhenzug der Fagarasberge begleitet uns mit seinen Zipfelmützengipfeln, die aussehen, als wohnte hinter diesen sieben Bergen Schneewittchen, auf der Fahrt nach Hermannstadt zurück.

Bildnachweise:
Malerei in Klosterkirche Schäßburg: Honterus-Druck, Sibiu
Sonnenschirme Kronstadt, orthodoxe Kirche Fagaras: Mateo Urquijo

Stille Tage in Siebenbürgen - Stadtgänge 3


Von unserer Wohnung in der Unterstadt aus sehe ich nicht weit entfernt ein Gebäude mit einer Vielzahl seltsamer Türmchen über dem Häusermeer. Es könnte eine Pagode sein, wäre das nicht in Hermannstadt eher unwahrscheinlich. Das muss das Haus des Roma-Kaisers sein, vermutet Sophie. Von den Roma (Zigeunern) hatte uns Beatrice erzählt. Als sie noch Lehrerin war, hatte sie auch Roma-Schüler, von denen einige die Roma-Sprache Romani sprachen. Rumänien hat eine der größten Roma-Minderheiten in Europa. 2,5 % der knapp 22 Millionen Rumänen sind Roma. Vor allem die Frauen fallen mit ihren langen Zöpfen, dem Goldschmuck und den weiten Blumenröcken ins Auge. Der Kaiser ist inzwischen verschwunden, weiß Beatrice. Er wollte den König, einen anderen Clanchef mit einem ebenso eindrucksvollen Palast, übertrumpfen und machte sich selbst kurzerhand zum Kaiser. Kaiser, König, Bettelmann. Einige Roma sind zu Geld gekommen, aber die meisten sind arm. Ihre alten Gewerbe, die Kesselflickerei, das Pferdefuhrhandwerk, die Tanzmusik, werden immer weniger gebraucht, auch wenn man gelegentlich Pferdewagen mit Zigeunern begegnet, ab und zu an Verkaufsständen mit Kupfergeschirr auf der Landstraße vorbeikommt, und Zigeunermusiker noch bei Hochzeiten aufspielen. Die Tanzbären leben jetzt im Tierpark, mit Vollpension. Als wir uns den Kaiser-Palast anschauen, tritt gerade ein schlanker hochgewachsener Mann aus der Tür und besteigt ein wartendes Taxi. Mit seinem schmalen, dunklen Gesicht und dem glatten, tiefschwarzen Haar könnte man ihm auch in Kalkutta oder Bangalore begegnen. Er belegt sichtbar die Theorie, dass die Roma ursprünglich aus Südasien stammen. An der Ecke spielen ein blonder, blauäugiger rumänischer Junge und ein dunkles Roma-Kind miteinander. Sie wissen wohl noch nichts von den Spannungen, die zwischen Rumänen und Roma immer wieder aufflammen. Das Haus ist bizarr. Auf einem kreuznormalen Steinhaus sitzt ein Wald von Türmchen, Erkern und anderen Ausbuchtungen aus Holz, noch zusätzlich durch ein Gewirr von Kabeln verziert. Die hohe Mauer rund um das Haus und das große Eisentor erlauben keinerlei Einblick in die untere Etage. Desto prominenter ragen die Türme heraus. Kein Wunder, dass ein Architekt dem Roma-Baustil ein ganzes Buch gewidmet hat.

Nahe unserem Haus ist der Markt. Dort hatte ich meine ersten rumänischen Zigeunerinnen gesehen, eine lachende Gruppe junger Frauen, voller Farben und Bewegung. Kaufen Sie, verkaufen sie? Einerlei. Der Markt ist jetzt im Hochsommer überbordend. Zu hohen Bergen sind die grünen Wassermelonen aufgetürmt. Chili und Paprika leuchten in allen Schattierungen von Gelb und Rot. Aus einem Weidenkorb schüttet eine Bauersfrau Blaubeeren auf ihren Verkaufstisch zum Sanddorn, den Brombeeren und den Himbeeren. Die nächste Ecke ist grün-gelb besetzt, von dicken, pickligen Gurken. Hedda legt alles ein, für den Winter, nach alter Art nur mit Salz und Wasser. Es gärt und wird leicht säuerlich. So entsteht das typische rumänische Gemüse. Markt war in Hermannstadt schon immer, wie auf dem Bild von Franz Neuhäuser aus dem 18. Jahrhundert zu sehen.

Rund um die schmucke Altstadt gibt es noch viel Platte, aber die meisten Wohnblöcke sind nicht mehr grau und abgeblättert. Hier ist das Betätigungsfeld von Camille. Die amerikanische Psychologin arbeitet im Auftrag einer amerikanischen Stiftung mit Waisenkindern und jungen Müttern. Begeistert erzählt sie von ihrer Arbeit und mit Wärme von ihren rumänischen Partnern. Sie und Frank, ihr Mann, der seine Ölingenieur-Beratungstätigkeit kurzerhand nach Hermannstadt verlegt hat, leben sichtlich nach den amerikanischen Wahlspruch think positive. Frank hat sogar angefangen, Deutschunterricht zu nehmen, damit er im Bachchor der Kirche richtig mitsingen kann. Als junger Mann hat er eine Zeit lang als Ingenieur in Deutschland geabeitet und damals wohl schon ein wenig fürs Deutsche Feuer gefangen.

An riesigen Einkaufszentren der Vorstadt vorbei – alle großen Ketten sind vertreten: Carrefour, Penny Markt, Real und in dieser Ecke Metro und die rumänische Trident – fahren wir nach Turnisor/Neppendorf. Der Vorort von Hermannstadt hat seine eigene Pfarrei und evangelische Akademie. Das Tagungs- und Konferenzzentrum der Akademie ist nach dem Widerstandskämpfer des 20. Juli Hans Bernd von Haeften benannt, der in Rumänien während des Zweiten Weltkriegs als Diplomat tätig war. Legen Sie unbekümmert um den prasselnden Schutt den Grundstein zu dem zukünftigen Neubau, riet er den verängstigten Menschen im Siebenbürgen des Dritten Reichs und warnte -wohl auch heute noch zeitgemäß - vor einem nur konservatorischen Geist. Auf dem Programm der Casa Haeften steht für September eine Tagung über Migration und Minderheiten im Kontext der EU-Erweiterung.

Bildnachweise:
Kaiserpalast: Mateo Urquijo
Königspalast, historischer Markt, heutiger Markt: Anselm Roth, Stadtführer Hermannstadt/Sibiu. hora-Verlag (2) 2006

26. August 2009

Stille Tage in Siebenbürgen - Stadtgänge 2

Am nächsten Abend gehen wir in die Stadtpfarrkirche zum Kammerkonzert. Der große Kirchenraum ist fast voll. Sachsen mischen sich mit Touristen. Neben mir eine Französin auf Entdeckungsreise durch Rumänien. Hinterher kommt Sophies Nachbarin Hedda noch zu uns, zu herzlichem Plausch über Land und Leute. Die gebürtige Hermannstädter Sächsin singt im Kirchenchor mit und unterrichtet am Kunstgymnasium. Nach Jahren im größeren Cluj-Napoca/Klausenburg rund 175 km nördlich ist sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. In Klausenburg war es ihr zu laut und unübersichtlich. Ihr Geburthaus in der Altstadt hat sie verkauft und ist in eine moderne Wohnung in der Unterstadt gezogen. In Hermannstadt lässt es sich gut leben, ist Hedda überzeugt. Keine Hektik und gute Nachbarschaft. In der deutschen Gemeinde kennt jeder jeden, aber auch mit den anderen Rumänen kommt sie gut aus. Das ist wohl nicht immer so. Das Verhältnis ist nicht frei von lang gehegten und gepflegten Animositäten. Bei den Rumänen gelten die Sachsen als hochnäsig und bossy, während diese die rumänischen Landsleute als laut und unzuverlässig empfinden. Der unterschiedliche Glaube, Protestanten die Einen, rumänisch-orthodox die Anderen, tut ein Übriges. Am Rand der Oberstadt dominiert die orthodoxe Kathedrale das Stadtbild, ebenso groß wie die Stadtpfarrkirche und doch so anders. Dort gotisches Aufstreben außen und karge Strenge innen, hier vom Gold der Ikonen durchwirktes geheimnisvolles Dunkel im Innenraum mit byzantinischen Kuppeln und Türmen im äußeren Erscheinungsbild. Irgendwo dazwischen die größte Minderheit in Rumänien, die Ungarn. Knapp hundert Jahre ist es her, dass der Westen Rumäniens der Osten Ungarns war. So fühlen sich viele ungarischstämmige Rumänen, ähnlich wie die Südtiroler in Italien, immer noch ihrem alten Heimatland mehr verbunden als ihrem neuen. Für die Sachsen ist neben Deutschland Österreich ein Bezugspunkt. Hedda will in den Ferien nach Wien fahren, wo ihre Tochter studiert.

Auf der Terrasse des Continentalhotels, eines der erstaunlich vielen großen und modernen Hotels am Rande des Zentrums, die um Touristen und Geschäftsreisende konkurrieren, treffen wir uns mit Silvia Machein. Die Lektorin vermittelt an der Hermannstädter Universität deutsche Sprache, Literatur und Landeskunde mit Engagement und Begeisterung. Mit lebensnahen Themen versucht sie, das Interesse am heutigen Deutschland zu wecken. Erfahrung mit dem ost-westlichen Brückenbau bringt Silvia schon aus ihrer vorherigen Lehrtätigkeit in Litauen mit. Sie kann in Hermannstadt aus einem Reservoir von in deutschen Schulen ausgebildeten Studenten schöpfen. Natürlich studieren nicht alle schöne Literatur. Karriereträchtige Fächer wie Wirtschaftswissenschaften locken.

Nahe der Piata Mare erwartet uns in einem alten Gebäude mit herrlicher Freitreppe und einem großen Saal mit von Säulen getragenen Gewölbedecken Anca Mihulet. Die junge Kunsthistorikerin und Kuratorin an der Galerie für Zeitgenössische Kunst des Brukenthal-Nationalmuseums betreut als Mitarbeiterin der leitenden Kuratorin Liviana Dan jährlich mehr als 15 Ausstellungen aktueller Kunst. Das ist oft ein Spagat zwischen Unterfinanzierung und noch recht traditionellem Kunstverständnis der Hermannstädter Gesellschaft, der aber letztlich immer wieder zu gelingen scheint, wobei deutsche Kulturinstitutionen gelegentlich Hilfestellung leisten. Mit Begeisterung führt Anca uns durch die aktuelle Ausstellung dreier höchst verschiedener rumänischer Künstler. Von verspielt-witzigen Zeichnungen bis zu verstörenden Fotos aus der jüngsten Vergangenheit reicht das Spektrum. Wir sprechen von den vielen schönen alten Häusern und dem reichen Kulturerbe der Stadt. Anca ist es wohl manchmal zuviel an Altem und an Nostalgie. Sie setzt sich für das Neue ein, jedenfalls in der Kunst.

Aus vielen Gesprächen, auch mit in der Wirtschaft Tätigen, ensteht der Eindruck, dass die Strukturen in Verwaltung und Politik noch recht verkrustet sind. Hierarchiedenken und viel Bürokratie sind wohl ein Erbe des alten Regimes. Die Zeit, in der Einzelne nichts zu melden hatten und über alles der Staat oder die Partei entschied, ist nicht lange her. So steckt man auch heute nicht gerne den Kopf heraus und fragt lieber erst einen Vorgesetzten, ehe man selbst eine Entscheidung trifft. Doch erhoben sich auch Hermannstädter Bürger 1989 gegen das Ceausescu-Regime. Man kann noch Einschusslöcher sehen, und 89 Hermannstädter ließen ihr Leben.

Bildnachweis: Sibiu / Hermannstadt. Honterus-Verlag 2006 (Panorama mit orthodoxer Kathedrale)