8. September 2009

Im Modus irrealis I

Literatin Vlady Kociancich zuckt die Achseln. Sie kann einem Engländer nicht erklären, was der Unterschied zwischen phantastischer Literatur und magischem Realismus ist. Solche vermeintlichen Spitzfindigkeiten sind für einen argentinischen Literaturbegeisterten etwas ganz Normales. Eine Erzählung, in der eine längst verstorbene Dichterin auftaucht ohne dass irgendjemand das merkwürdig findet, ist es ebenso. Denn die phantastische ist in Argentinien die normale Literatur, so Kociancich.

Wir wollen ihr das gerne glauben. Ist es nicht im Leben ähnlich? Auch die Politik setzt sich mit Nonchalance über Plattheiten wie Glaubwürdigkeit und Folgerichtigkeit hinweg. Und im Alltagsleben nehmen Argentinier die schöne Absicht, das eloquent vorgetragene Wollen und Wünschen ebenso gerne für die Tat. Dass sie oft nicht folgt, wen kümmert es. Morgen ist ein anderer Tag und der ist weit weg. Nicht umsonst sind das spanische Wort für Freude und Hoffnung und das deutsche für Einbildung gleichlautend: ilusión/Illusion. Nur plumpe Nordländer gerieren sich als Spielverderber und erwarten, was angekündigt oder zugesagt wurde, habe auch zu geschehen.

Wenn es selbst Argentiniern zu phantastisch wird und sie ihre Landeschefin ironisch Ankündigungspräsidentin betiteln, ist etwas faul im Staate Argentinien. Was hat Cristina Kirchner nicht alles angekündigt, den tren bala, einen nagelneuen, komfortablen Hochgeschwindigkeitszug, die Ausstattung aller Stadtbusse mit praktischen Magnetkarten in drei Monaten (das war etwa vor einem Jahr) und und und.

Ich gewöhne mich allmählich daran. „Morgen gehen wir zusammen ins Kino“, „Ich schicke Ihnen das Buch umgehend.“ Wie liebenswürdig, wie menschenfreundlich und wie verführerisch, denn tun wird man natürlich nichts von alledem. Hören Sie genau hin. Wenn etwas mit einem sin falta / unbedingt bekräftigt wird, könnte es vielleicht passieren und vom modus irrealis in den modus realis übertreten. Wenn das nur nicht überhand nimmt, denn wo fände dann all die schöne phantastische Literatur ihren Nährboden?

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