Tomás Eloy Martínez, argentinischer Erfolgsschriftsteller, möchte seine Landsleute für Elias Canetti begeistern. Alles gefällt ihm an dem europäischen homme de lettre, nur mit Canettis Urteil über den argentinischen Nationaldichter Jorge Luis Borges ist er nicht einverstanden. Hatte doch Canetti sich erdreistet, zu vermuten, Borges sei der Nobelpreis für Literatur nicht nur wegen seiner umstrittenen Haltung zu den Militärdiktaturen Argentiniens und Chiles versagt geblieben. Er habe ihn nicht bekommen, denn seine Literatur sei gut geschrieben, aber trivial und oberflächlich wie ein Schachspiel. Wie kann ein Mann wie Canetti so falsch urteilen, fragt sich Eloy Martínez fassungslos.
Wer so etwas auch nur zu denken wagt, bekommt in Argentinien als ernstzunehmender Intellektueller kein Bein auf den Boden. Argentinier haben eine Schwäche für Heiligenverehrung. Da reiht sich Borges in die Phalanx der Idole wie Tangokönig Carlos Gardel, Peronistenstar Evita Perón und Fußballgott Diego Maradona nahtlos ein. Man bewundert nicht nur gerne, man wird auch gerne bewundert, für all die spitzenmäßigen Heroen. Kaum ein Artikel über Literatur und selbst über viele andere Themen kommt ohne ein Borges-Zitat aus. Was immer der blinde Visionär, als der Borges in den argentinischen Pantheon eingegangen ist, gesagt oder geschrieben hat, es ist heute, gut 20 Jahre nach seinem Tod, jeder kritischen Betrachtung entrückt. Selbst Goethe könnte ob soviel Weihrauchs neidisch werden.
17. September 2009
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