25. Juli 2010

Personenkult

Argentinien hat sein gerütteltes Maß an lateinamerikanischen politischen Erbkrankheiten wie dem Caudillismo, der Herrschaft eines starken Regional"fürsten" und dem damit zusmmenhängenden Personenkult. Und man liebt den Blick in die glorreiche Vergangenheit. Das Bicentenario bietet Anlass sich noch intensiver über die eigene Vergangenheit zu beugen, als sonst. So sah ein Karikaturist schon die Ortsheiligen General San Martín, General Belgrano und General Perón als Zombies aus dem Grab steigen. Zum 115. Geburtstag von Domingo Perón klebten überall Plakate, die dem Verblichenen dankten: Gracias mi General. Keine Grenzen kennt die Verehrung für die Frau an seiner Seite. An Eva Perón kommt niemand vorbei. Evita lebt in uns kann man dieser Tage auf einem weiteren Plakat stadtweit lesen. Zu Evitas 58. Todestag legen die regierenden Peronisten noch eins drauf. Die Stadt ist mit Plakaten überschwemmt: Evita ruft uns zusammen . Dein Leben ist unser Beispiel, dein Name unsere Flagge. Evita in unserem Herzen. In der Casa Rosada gibt es einen Festakt und einen Fakelzug durch die Straßen. Präsidentin Cristina Kirchner sieht sich wohl als Reinkarnation von Evita.

Da wollen die Madres der Plaza de Mayo nicht zurückstehen. Unter ihrer Chefin Hebe Bonafini haben sie sich, nicht zuletzt dank reichlich fließender finanzieller Unterstützung seitens der Regierung, zu bedingungslosen Anhängern von Nestor und Cristina Kirchner entwickelt. So nennt sich eine Gruppierung der Madres nach dem Vornamen der Präsidentin Las Cristinas.
Ein unbefangener Zugereister würde annehmen, dass die Zentralbank von Bankexperten geführt wird. Nicht so in Argentinien. Die Präsidentin, von der Regierung in einem umstrittenen Coup eingesetzt, die beiden Vizepräsidenten und alle sieben Direktoren gehören politischen Gruppierungen an, die in der Öffentlichkeit heftig diskutiert werden. Die Nähe zu einer der Gruppen definiert sich dabei nicht nach Parteizugehörigkeit, sondern nach den leitenden Figuren, denen die jeweiligen Bankmenschen verpflichtet sind. So ergibt sich eine bunte Mischung von Kirchneristas, Lavagnistas, Redadristas und weiteren istas. Da geht es doch nicht um Fachleute, oder?

Eine weitere argentinische Identifikationsfigur, Diego Maradona, dient sich derweil dem in Caudillo-Manier regierenden Staatschef von Venezuela an. Mit Huguito, Hugochen Chavez ist Maradona auf Du und Du und will ihm helfen, die nächste Wahl zu gewinnen. Vielleicht hat Dieguito als Königsmacher mehr Glück denn als Fußballtrainer.

Karikatur: La Nación, 9.6.2010
Foto: La Nación, 27.7.2010

24. Juli 2010

Calderon: Das Leben ein Traum von Blut, Schweiß und Sperma

In der weitgehend hausgemachten Theaterszene von Buenos Aires gibt es heuer eine Besonderheit. Calderons "Das Leben ein Traum" aus Spaniens Goldenem Zeitalter kam in einer spanischen Inszenierung, mit hiesigen Darstellern, ins Teatro San Martín. Für die Regie zeichnet Calixto Bieito aus Barcelona verantworlich. In Europa bestens bekannt mit Inszenierungen in allen großen Städten von Wagneroper über Brecht zu Shakespeare, brachte Bieito für die eher zahmen Sehgewohnheiten der Portenos einen echten Schocker mit.


Auf der Bühne wurde gefurzt, masturbiert und den Frauen an die Wäsche gegangen, was das Zeug hält. Damit entfernt sich der Regisseur gar nicht so weit vom Barock der Entstehungszeit des Werks. Wie oft ist etwa im Simplizissimus von genüsslichen Furzkannonaden die Rede. Für das Versdrama über Sein und Schein, Zügellosigkeit und Ordnung ist der durchweg klamaukhafte Stil allerdings gewöhnungsbedürftig. Auch die zentrale Sandarena konnte weit weniger überzeugen als einst in Peter Brooks legendärer Pariser (und Hamburger) Carmen-Inszenierung. Das kostensparend karge Bühnenbild wartete außerdem mit einem großen Holzstuhl als Thron, einem Schaukelpferd und einem riesigen Spiegel auf, der schon mal schief hing, wenn die Welt von Calderon noch nicht in Ordnung gebracht worden war. Eine etwas platte Symbolik. Natürlich traten die Mächtigen in zeitgenössischen Militärklamotten auf. Hatten wir das nicht schon oft, zu oft? Grelle Tivoli-Lichterketten über der Bühne und im Zuschauerraum lenkten vom Bühnengeschehen ab und brachten die barocke Botschaft, nach der das Leben ein Theater ist, recht schlicht rüber.

Die gute Textbeherrschung der Schauspieler und ihr geschicktes Lavieren zwischen hohem Verston und beiläufigem Sprechen reichten als Gegengewicht nicht. Furcht und Mitleid blieben aus. Zuviel wurde geschrieen , gerannt und geturnt. Schade.


Szenenphoto aus dem Programmheft




15. Juli 2010

Im Teatro Colon - kalte Pracht

Gestern Abend hatte ich das Privileg, ins frisch renovierte Renommierstück der Kulturszene von Buenos Aires eingeladen zu sein. Das Teatro Colon strahlte und glänzte außen und innen. Auch das Schumann-Konzert war ein Genuss, den herrlichen Opernsaal mit seiner bemalten Decke, den Samtvorhängen und den vergoldeten sechs Rängen wiederzusehen ebenso.


Weniger genussvoll gestaltete sich das Drum und Dran. Gnadenlos ließen die Türsteher eine allmählich auf ungefähr hundert Personen anwachsende Menge im eisigen Wind dieses Winterabends draußen stehen, weil erst die Damen und Herren einer Sonderveranstaltung im Goldenen Saal hinauskomplimentiert werden mussten. Auch eine 87jährige Konzertbesucherin fand keinen Einlass in die Vorhalle. Überdies scheint die Heizung noch nicht renoviert zu sein. So liefen in der kalten Pracht der vergoldeten, von riesigen Kristalllüstern erleuchteten Wandelgänge die Besucher in Mänteln herum. Auch die Pause verhieß keinen heißen Kaffee oder ein Gläschen Schampus. Die Buffets gähnten leer und ungastlich. Wieder zeigte sich, daß Kundendienst in Argentinien ein Fremdwort ist und Schlangestehen ein nationaler Sport.

Dafür konnte ich etwas bewundern, was ich in keinem anderen Openhaus je gesehen habe. Befragt, wofür die dunklen Verließe zu beiden Seiten der Bühne am Rande des Parketts dienten, klärte mich meine Freundin auf: Früher durfte man, wenn man Trauer hatte, nicht in die Oper, erzählte sie, so kam man auf die Idee, für die armen Trauernden, die vergeblich nach Kunstgenuss lechzten, diese dunklen Verliese zu schaffen, in denen sie nicht gesehen werden, aber am Opernspektakel teilhaben konnten. Eine echt argentinische Lösung, die auch heute in vielen Bereichen gerne Anwendung findet. Wie sagte mein Bankmensch: Das Papier ist eine Sache, die Wirklichkeit eine andere.

Fotos: La Nacion

11. Juli 2010

Tafeln für die Schülerreise - In der Armenischen Gemeinde

Der Saal fasst ungefähr 400 Menschen und ist gerappelt voll. Zwischen den Tischreihen schweben bezaubernde junge Mädchen und ihre männlichen Pendants im schwarzen Kellneroutfit und servieren Vorspeisenteller mit Mezze und schwertgroße Spieße mit gebratenen Lammstücken.

Es ist Freitagabend im Kellergeschoss der Schule Instituto Marie Manoogian im Stadtteil Belgrano. Hier in der Calle Armenia laden zweimal wöchentlich die Eltern und Schüler der Schule im armenischen Viertel von Buenos Aires zur üppigen Tafel. Die Mütter kochen, die Väter schenken Wein aus und die Schülerinnen und Schüler servieren gekonnt. Zwischendurch gibt es eine Tanzeinlage. Wer will, kann sich die Zukunft aus dem Satz des orientalischen Kaffees lesen lassen.

Mit dem Erlös von Mahmara, einer Paprikacreme mit Nüssen, Basterma, luftgetrocknetem, gewürztem Rindfleisch, Shish Kebab und Feigentorte fördern die Gäste die Schule. Bald sind Winterferien. Dann geht es mit dem erwirtschafteten Geld für die Schüler der Oberklassen auf große Europareise. Wir besuchen auch Armenien, verrät mir Stefanía, die an unserem Tisch bedient. Verständigungsprobleme wird es nicht geben, denn im Instituo Marie Manoogian wird armenisch gelehrt. Eine Plakette in der Eingangshalle erinnert an den Besuch des armenischen Präsidenten in den 90gern zweisprachig, auf Castellano und in schöner armenischer Schnörkelschrift. Baree djanapar, Gute Reise wünschen wir Stefanía nach einem gelungenen Abend.

10. Juli 2010

Viva la Patria!

Dieses Jahr kommen wir Portenos aus dem Festestrubel gar nicht mehr heraus. Kaum sind die gigantischen Fest-Spiele zum 25. Mai 1810 vorbei und die fast ebenso pompöpsen Feiern zum Día de la Bandera in Rosario, da naht schon der Día de la Independencia. Am 9. Juli 1816 hat die erste Nationalversammlung Argentiniens in der Andenstadt San Miguel de Tucumán die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet. Präsidentin Cristina Kirchner nebst Gatten ist eigens nach Tucumán gereist und hat sich zu diesem Anlass die den Franzosen seinerzeit abgeguckte rote Revolutionsmütze aufgesetzt. Sie liebt ohnehin die bedeutungsträchtige Kostümierung. Zu einer Arbeiterdemonstration in Paris war sie in passender Schirmmütze erschienen, natürlich in kleidsamer Designerversion.

Ohne präsidentiellen Glanz, aber hochgestimmt und fröhlich fand das kleine Fest in Buenos Aires statt. Wiedereinmal sass ich in der Loge, denn alles spielte sich an der Ecke von Avendia de Mayo und Plaza del Congreso ab, der eigentlich Plaza de los dos Congresos heißt, um an das erste Parlament in Tucumán zu erinnern. Hier im barrio wurde gleich doppelt gefeiert, denn die Avendia de Mayo in ihrer heutigen Gestalt wurde 116 Jahre alt. So hatten die Freunde der Avenida de Mayo geladen, war Stadtkultursekretär Hernán Lombardi erschienen, dankte ein Geistlicher der Heiligen Jungfrau und wurde die albiceleste, die Flagge, feierlich aufgezogen. Dann hatten die Folkloretänze aus der Provinz Santiago del Estéro die Bühne und tanzten in ihren malerischen Kostümen eine Chacarena und Salsa nach der anderen bis in die späten Nachmittagsstunden dieses klaren, sonnigen Wintertags. Die Caballeros in ihren Pluderhosen, den hochhackigen Stiefeln , weißen Spitzengamaschen und schwarzen Sombreros, den Poncho über der Schulter und das Messer mit Silberknauf im Gürtel, stahlen den Frauen fast die Schau.

Das Bandoneon klagte und Gitarre und Trommel schlugen den Rhythmus. Der Conferencier versicherte, in Santiago del Estero, der fernen und armen Provinz im Nordwesten, habe man viel Zeit zum Tanzen, heiße die Provinz doch wegen des Brauchs, von Mittag bis fast in den Abend hinein Siesta zu halten, auch Santiago del Descanso, Santiago des Ausruhens. Viva la Patria, viva! Mit viel Tanzfreude und Nationalstolz, aber fernab der aktuellen politischen Streitereien ging dieser portensische Nachmittag zuende.

4. Juli 2010

Relative Armut

Wer am zentralen Bahnhof Retiro ankommt, und sich von dort in die betuchten nördlichen Vororte von Buenos Aires begibt, fährt an einem Stück Dritter Welt vorbei. In der Villa 31 stapeln sich direkt zwischen Bahngleisen und Stadtautobahn ärmliche Häuschen und Bretterverschläge in wildem Chaos über- und nebeneinander. Diese Villa Miseria, wie die Elendsviertel hierzlande heißen, liegt mitten im Zentrum. Viele andere, in die so mancher Porteno nie einen Fuß setzen würde, breiten sich in der südlichen Stadthälfte aus. Die Armut deutlich zu verringern, ist trotz flammender Rhetorik und etlichen Ad-Hoc-Zuwendungen auch der linksperonistischen jetzigen Regierung nicht gelungen.

Doch Armut ist relativ. Schaut man auf die Statistik, so steht Argentinien innerhalb Lateinamerikas nicht so schlecht da. Nach einer Untersuchung von Gallup müssen 25,3% aller Argentinier mit weniger als 2 USD pro Tag auskommen, und einer unter fünf hat keinen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen. Besser geht es aber auf dem Subkontinent nur den Chilenen. Alle anderen, selbst das prosperierende Brasilien und das gesamtwirtschaftlich potentere Mexiko, weisen noch schlechtere Ergebnisse im Armutindex auf.

Foto: Fernando Rey

Im Fußballfieber III - Kein Mundial-Effekt für die Politik

Auch für die Regierung ist mit dem Ausscheiden Argentiniens ein Traum ausgeträumt. Bislang hat das regierende Ehepaar Kirchner die Öffentlichkeit Glauben gemacht, dass mit dem erfolgreichen Team auch sie selbst und der Peronismus siegen würden. 50.000 Plakate "Fußball für alle" waren geklebt worden, die den Eindruck erwecken sollten, Fußball im Fernsehen sei eine Sozialleistung. Der Zwischenstopp der Präsidentin in Südafrika auf dem Weg zu einem Staatsbesuch in China war schon geplant. Man zerbrach sich nur noch den Kopf, wie man verhinden konnte, dass daheim in Argentinien der ungeliebte Vizepräsient mit Maradona und seinen Mannen aufs Siegerfoto kam. Die Mundial kam wie gerufen, um ein paar Probleme unter den Teppich zu kehren und den ständigen Machtmissbrauch zu verschleiern. Die Choreographie stand, nur der Sieg blieb aus.

Nun kann die politische Fußball-Dividende nicht eingefahren werden. Man muss sich den Schwierigkeiten wieder direkt zuwenden, zum Beispiel dem Kampf mit dem Parlament um die Verteilung der Haushaltsmittel. Im laufenden Haushaltsjahr werden unglaubliche 35 Milliarden Pesos, das sind rund 7,1 Milliarden Euro, von der Regierung nach eigenem Gutdünken und ohne jegliche Kontrolle des Parlaments ausgegeben. Welches Ministerium, welche Provinz, welche Gemeinde was davon bekommt, entscheidet, je nach dem Wohlverhalten und der Regierungsnähe der Amtsträger, allein Präsidentengatte und Ex-Präsident Nestor Kirchner, der im Hintergrund die Fäden zieht. Dabei handelt es sich um überschüssige Einnahmen. Der reguläre Haushalt pflegt vom Parlament ohne Debatte in toto verabschiedet zu werden.

Mit den Sondervollmachten bei der Vergabe von Haushaltsmitteln will das Parlament nun Schluss machen. Die Regierung hat aber schon ihr Veto zu einem eventuellen Gesetz in dieser Richtung angekündigt. So wird wohl, zumindest bis zur nächsten Präsidentenwahl im November 2011, alles beim Alten bleiben.

Manch einer, der es nicht mit den Kirchners hält, geht sogar soweit, die argentinische Niederlage gegen Deutschland zu begrüssen. Ich wollte unser Team nicht gewinnen sehen, sagte mir ein waschechter Porteno, das hätte nur den Kirchners in die Händen gearbeitet, und den unsäglichen Maradona aufgewertet. Unsere Barabravas konnten nur von den Südafrikanern diszipliniert werden, fügte er resigniert hinzu. Die militanten argentinischen Hooligans, manche davon vorbestraft, hatten sich in Südafrika so ruppig benommen, dass einige ausgewiesen wurden. Pikant wird die Geschichte dadurch, dass etliche in ihrer Heimat sich auch als regierungstreue piqueteros, Demonstranten, 'verdient' gemacht haben.

Die Niederlage im Viertelfinale nehmen sich viele Argentinier als nationale Schmach zu Herzen. Außerhalb der Mundial und... außerhalb der Welt? titelte eine Zeitung, als wieder einmal über die zunehmende politische und wirtschaftliche Isolierung Argentiniens geklagt wurde. In der WM zu verlieren, ist eine Niederlage für den Profisport, nicht für die Nation, konterte der angesehene Wissenschaftler Mario Bunge. Seine langjährige berufliche Tätigkeit in Kanada muss abgefärbt haben. Solche nüchterne Betrachtungsweise findet man in Argentinien selbst selten.

Kariktur Nestor Kirchner neben Maradona und Messi als Fußballer: La Nación 4.7.2010
Karikatur Kampf zwischen Congreso und Regierungspalast Casa Rosada: La Nación, 4.7.2010

Gaucho-Küsse

Haben Sie heute schon geküsst? Vielleicht ist ja der Gasmann dagewesen oder Sie haben die Nachbarin auf der Treppe getroffen. Schon sind zwei Küsse fällig. Mit Schmatz und auf die Wange, nur auf eine, bitteschön. So begrüßen sich Portenos, egal ob Männlein oder Weiblein.

Geküsst wird immer, nicht nur unter Freunden. Vor ein paar Tagen musste ich zum Arzt. Nach geraumer Wartezeit im überfüllten, winzigen und schlecht belüfteten Wartezimmer konnte ich endlich zum Doktor hinein. Wr sahen einander das erste Mal, denn glücklicherweise bin ich nicht Stammkundin. So hätte ich den obligaten Schmatzer fast vergessen. Nicht so der Doc! Als vorigen Winter die Grippe A ihr Unwesen trieb, wurden viele Hygienemaßnahmen diskutiert und einige sogar ergriffen. Das Küssen einzuschränken, gehörte nicht dazu.

Argentinier sehen die Küsserei gerne als Beweis ihrer warmen Herzlichkeit untereinander an. Zweifel seien erlaubt. Der Arzt behandelte mich weder freundlicher noch preiswerter als seine deutschen Kollegen und der Maler, den ich kürzlich brauchte, bedeutete mir nach dem Kussaustausch, er könne bei mir leider in den nächsten Wochen nicht tätig werden, denn der Auftrag sei zu klein. Da müsse er erst eine Lücke in seinem vollen Terminkalender finden.

Gerne gäbe die Zugereiste eine Anregung, die auch das Hygieneproblem elegant lösen würde. In Wien ist man schon lange dazu übergegangen den früher obligaten Handkuss aus der Realität in die Rhetorik zu befördern. Küss die Hand, gnä' Frau kann man gelegentlich noch hören. Ausgeführt wird es immer seltener. Sollte das die Argentinier, Meister in der Virtualität, nicht ansprechen?

Karikatur: La Nación 2.7.2010

Im Fußballfieber II - Großzügige Verlierer

Der argentinische Traum ist ausgeträumt. Obwohl ich mit der deutschen Mannschaft gezittert und gefeiert habe, war ich ein wenig traurig unter all den stummen Portenos nach dem Viertel-finalspiel gegen Deutschland. Kein Hupkonzert, keine Vuvuzelas ertönten. Still fuhren die Fans mit ihren Hemden im nationalen albiceleste im colectivo nach Hause. Beim asado, beim Grillfest in der Familie, sprach man sich gegenseitig Trost zu. Allzu überlegen hatte man sich gefühlt, den Sieg schon fast vorweg genommen. Wochenlang waren die Zeitungen voll von Messi, Maradona und Co. Von jedem Werbeplakat blickte fest einer der argentinischen Fußballhelden. Jedes zweite Wohnhaus hatte geflaggt. Ankündigungspräsidentin Cristina Kirchner hatte schon in Aussicht gestellt, sie werde zum Endspiel (!) fahren. Nationaltrainer Maradona hatte mit Hohn und Spott für andere Mannschaften wie Mexico nicht gespart. Kluge Zeitungskommentatoren lasen aus den Anfangserfolgen Argentiniens und anderer südamerikanischer Mannschaften gegnüber europäischen Teams schon den bevorstehenden Untergang Europas ab. Um so tiefer ist nun die Enttäuschung. In wenigen Ländern ist Fußball wohl eine so patriotische Angelegenheit und setzt so viel Träume frei wie in Argentinien. Un país donde se vive y se respira fútbol, sagt man von sich selbst, ein Land, in dem Fußball gelebt und geatmet wird.

Doch wie erstaunt umd gerührt war ich, als mich nach dem Spiel, das so haushoch gegen die Mannschaft meines Landes verloren worden war, der Kellner aus meinem Eckcafé, der Gemüsehändler von gegenüber und selbst Passanten auf der Straße zum deutschen Sieg beglückwünschten. Gut, dieser Muellér, sagte Faustina, Concierge in meinem Haus, anerkennend. Meine Zeitungsfrau hatte heute La Nación zusammen mit einem Extraschmankerl für mich parat. Sie habe mich gestern im Fernsehen gesehen, wo wir deutschen Fans beim gemeinsamen Spielangucken in der deutschen Botschaft gefilmt worden waren. In Argentinien ist eben alles groß, die Großmäuligkeit ebenso wie die Großzügigkeit.

Foto: La Nación 4.7.2010

3. Juli 2010

Erfolgreich gegen den Strom


«Sie ist eine Kämpferin», sagt ihre Mutter. Die 90-Jährige war bei der Amtseinsetzung vor einem Jahr dabei, ebenso Ehemann Johann Maree, Soziologieprofessor an der Universität Kapstadt, und die beiden Söhne. «Ich kann gut delegieren und die richtigen Mitarbeiter auswählen», benennt Helen Zille eines ihrer Erfolgsgeheimnisse. «Mein Mann war meine beste Personalentscheidung», lacht sie. «Wir sorgen für Mamas Bodenhaftung» kontert Sohn Paul.

Mila und Wolfgang Zille, die Eltern, haben sich erst in Johannesburg kennengelernt. Beide hatten einen jüdischen Elternteil und waren mit der Familie aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen. Helens familiäre Wurzeln führen ins Ruhrgebiet und nach Berlin. Als SA-Leute das Haus der Großeltern in Essen in der Reichspogromnacht verwüsteten und den Großvater festnahmen – er wurde später freigekauft – flüchtete die Großmutter mit den Kindern über England nach Südafrika. Die Familie von Helens Vater, dessen Mutter Jüdin war, ging schon bald nach der so genannten Machtergreifung aus Deutschland weg und einige Jahre später nach Südafrika.

In einem politisch bewussten und emanzipierten Umfeld ist Helen erzogen worden. Schon ihre Essener Großmutter hatte den Töchtern beigebracht: «Mädchen schmeißt eure Stricknadeln weg. Wartet nicht auf Ehemänner, sondern lernt, unabhängig zu sein.» So Helen Zille in einem Interview. Sensibel für jede Form von Rassismus engagierte sich ihre Mutter in der Antiapartheidbewegung. Menschen mit solcher Familiengeschichte reagieren wie Seismographen auf erste Anzeichen von Intoleranz. Nicht von ungefähr finden sich viele südafrikanische Juden unter den damals aktiven Apartheidgegnern. Helen Zille begreift sich als Christin mit jüdischen Wurzeln, so bekannte sie auf einer Konferenz amerikanischer jüdischer Organisationen, die im Vorfeld der Fußball WM ans Kap gereist waren. Sheila Boardman, Mitschülerin an der St. Mary’s Schule im Johannesburger Vorort Waverley erinnert sich: «Helen war immer sehr zielbewusst, direkt und offen. Das war ziemlich ungewöhnlich für ein Mädchen in den 60er Jahren.»

1977 kam Studentenführer Steve Biko in der Haft um. Helen Zille, inzwischen junge Journalistin, deckte den als Tod durch Hungerstreik getarnten Mord auf und berichtete darüber im «Rand Daily Mail». Die Überschrift «Keine Zeichen von Hungerstreik – Bikos Ärzte» dieses Stücks investigativen Journalismus sendete eine Schockwelle durch das Südafrika der Apartheid. Repressalien bis zu Todesdrohungen waren die Folge. Wenig später verließ Helen die Johannesburger Zeitung und fand in Kapstadt in der Black Sash- Bewegung des zivilen Ungehorsams gegen die Apartheidgesetze ihre politische Heimat. Manchem Verfolgten konnte sie helfen.

Entschlossenheit und Mut. Die braucht sie auch heute, wenn es darum geht, Machtmissbrauch des regierenden African National Congress (ANC) anzuprangern und die Tendenz, jeden der nicht mitspielt, als Rassisten zu diffamieren. «Godzille» nennen ihre Gegner sie. «Ich habe eine automatische Löschtaste im Kopf», winkt Zille ab.

Auch sie hat wie einst Martin Luther King einen Traum: Sie will Südafrika von der noch zu sehr auf Rasse basierenden Politik wegführen und den Seilschaften eine offenere Gesellschaft entgegensetzen. So sah sie sich bald nach dem Ende der Apartheid wieder auf der Seite der Opposition. Anpassung an die jeweils Mächtigen ist ihre Sache nicht. In der Ära der Apartheid provozierte sie das weiße Establishment, heute das schwarze. Doch beließ sie es nicht beim Neinsagen.

Nach einigen Jahren als Erziehungsministerin im Westkap und als Abgeordnete des nationalen Parlaments gelang ihr der erste große Durchbruch. Mit hauchdünner Mehrheit einer bunt gemischten Koalition wurde sie 2006 Bürgermeisterin von Kapstadt. Damit stand sie einem Drei- Millionen-Gemeinwesen mit erheblichen sozialen Problemen vor. Der Erfolg ihres energischen und effizienten Regierungsstils blieb nicht aus. Arbeitslosigkeit und Kriminalität gesenkt, Geld für mehr soziale Projekte freigemacht und den World Mayor Award gewonnen, den Preis der weltbesten Bürgermeisterin. Sie ist stolz auf das Erreichte.

Der Stallgeruch des ANC fehlt ihr, die Bürgernähe nicht. Helen Zille ging schon mal selbst nachsehen, wenn die Polizei an einem Tatort nicht zur Stelle war und überraschte die Ordnungshüter beim Fernsehen. Im Township kann sie mit jedem reden. Als eine der wenigen Weißen spricht sie neben Englisch, Afrikaans und Deutsch mit Xhosa auch die regionale Bantu- prache. Als sie eine Demonstration gegen Drogenbarone aktiv unterstützte, wurde die Streitbare sogar als Bürgermeisterin kurz inhaftiert. Sie lässt sich nicht beirren.

Soziale Verantwortung bringt die Großnichte des Berliner Milljöh-Schilderers Heinrich Zille von zuhause mit. Nicht weit weg von dessen feuchten Kellerwohnungen im Kietz sind die ärmlichen Hütten im Township, auch wenn hier öfter die Sonne scheint. So ließ Helen Zille es sich 2008 nicht nehmen, im Städtchen Radeburg in der Lausitz den 150. Geburtstag des «Pinselheinrichs» mitzufeiern und den sächsischen Zille-Schülern vom fernen Südafrika zu erzählen.

Das in Kapstadt angesammelte Vertrauenskapital konnte Helen Zille nutzen, als es um einen noch höheren Einsatz ging. Es galt, die ganze Provinz zu gewinnen. «Dabei ist keine Magie», sagte einer ihrer Wahlkampfbegleiter erschöpft, während Helen ein Bad in der Menge nahm, sang und tanzte, «es ist gute, altmodische Arbeitsethik». Sie selbst bekennt: «Ich bin in meiner Einstellung sehr deutsch und mit viel Disziplin aufgewachsen». Die Damen aus den besseren Vierteln fanden ihr Tanzen genierlich. «Das gehört zur afrikanischen Kultur» beschied sie ihren weißen Fanclub. Was sie macht, macht sie ganz. «Es ist Z-Zeit», jubelten ihre Anhänger nachdem die von Zille geführte Democratic Alliance 2009 mit sensationellen 51,3 der Wählerstimmen in der Provinz Westkap die Regierung stellen konnte und landesweit auf beachtliche 16 Prozent kam. «Z» stand nun nicht mehr allein für Jacob Zuma, den mächtigen ANC-Parteichef und gerade gewählten Präsidenten, sondern auch für Helen Zille.

Effizienz und Sparsamkeit sind ihre Markenzeichen beim Regieren. Als Bürgermeisterin von Kapstadt hat sie sehr genau geprüft, was das neue WM-Stadion kosten solle, wo das Geld herkomme und wie man das Stadion später nutzen werde. Als Regierungschefin der Provinz Westkap versucht sie, dem allgemeinen Schlendrian und der Verschwendungssucht der Staatsbediensteten entgegenzuwirken und hat einen eigenen Ausgabencode aufgestellt. Auch sie begreift aber die Fußball WM als große Chance für ihr Land. «Zeigt der Welt AfriCan», Afrika kann es, gab sie vor den 44.000 als Slogan aus, die zu einem Bittgottesdienst in Kapstadts Green Point Stadion einige Wochen vor den Spielen zusammengekommen waren. Und sie ist ein Worcaholic. «Wat macht denn der Kerl da? Der arbeet’t.» Diese Bildunterschrift Heinrich Zilles könnte auch auf seine Großnichte passen.

Für ihre scharfe Zunge und Schlagfertigkeit von ihren politischen Gegnern gefürchtet, geht sie keinem Streit aus dem Weg. Kaum im Amt, wurde sie wegen ihres vorwiegend aus weißen Männern bestehenden Kabinetts angegriffen. Mehr Schwarze, mehr Frauen, forderte man. Helen Zille beharrte aber darauf, dass Posten nach Fähigkeit vergeben werden sollten, nicht nach Quoten, was oft nur eine Ausrede für Gefälligkeiten sei. Und sie legte den Finger auf die Wunde der patriarchalischen Gesellschaft: auf das Aids-Problem. Die beste Frauenförderung sieht sie in mehr Bildungsinvestitionen.

Zille verbindet das Amt der Regierungschefin in einer Provinz mit dem der Oppositionsparteiführerin auf nationaler Ebene. Kein leichter Spagat. Der Wahlsieg ihrer Democratic Alliance bedeutete auch, eine erneute Zwei- Drittel-Mehrheit des ANC zu verhindern und damit zur Machtbegrenzung beizutragen. «Macht korrumpiert», ist ihre Überzeugung «und absolute Macht korrumpiert absolut». Ihre Partei bietet den Wählern eine Alternative.

Zivilcourage würde die Unbeugsame wohl selbst als wichtigste Tugend einer Politikerin bezeichnen. Versöhnlichkeit war ihre Sache bisher weniger. «Hör auf die Menschen», rät Mutter Mila. «Es gibt mehr, was uns zusammenhält, als was uns trennt» beschwörte Helen Zille in ihrem wöchentlichen Newsletter unlängst ihre Landsleute, als nach dem Mord am rechtsextremistischen Burenführer Eugène Terre’Blanche die latenten Rassenanimositäten neu aufflammten. Die tiefen Wunden ihres Landes heilen zu helfen und gleichzeitig wachsam die Demokratie zu verteidigen, für dies Ziel wird sie noch mehr schwarze Wähler gewinnen müssen. «Das ist unsere größte Herausforderung», sagt sie selbst.

2. Juli 2010

Tourismus ganz dringlich

Alle Länder möchten wohl eine gesuchte Touristendestination sein, aber Argentinien besonders dringlich. So entschied die Regierung dieser Tage per Notverordnung, dass ein neues Ministerium für Tourismus zu schaffen sei. Sie begründete die Anwendung des umstrittenen Notverordnungsgesetzes DNU damit, dass die Maßnahme keinen Aufschub dulde und man deshalb nicht das von der Verfassung vorgesehene Verfahren einhalten könne.

Anlass und Begründung muten wie eine Verhöhnung des Obersten Gerichtshofs an. Der hatte erst vor einigen Wochen entschieden, dass die Anwendung des Notverordnungsparagraphen einzuschränken sei und sich nur auf Fälle von besonderer Dringlichkeit beziehen dürfe. Wie hat doch kürzlich ein bekannter Politikwissenschaftler die demokratischen Verhältnissen spottende Konzentration von Macht in der Hand des präsidentiellen Paares genannt: Hyperpräsidentialismus. Mit Spannung wird nun erwartet, ob das neue Ministerium umgehend hyperaktiv wird.

1. Juli 2010

Immigrantennation auf spanisch-katholisch

Wenn ich mein Haus günstig verkaufen kann, mache ich eine Pilgerfahrt zur Madonna von Lujan. - Wieso zur argentinischen Nationalheiligen, Du bis doch gar nicht katholisch? frage ich den jüdischen Freund. Das macht nichts. In meinen Adern fliesst Porteno-Blut und da gehört die Madonna dazu.

Nichts könnte die Argentinidad besser umschreiben, als diese Anekdote. Argentinien klopft sich im Jahr des Bicentenario mit Vorliebe selbst auf die Schulter und sieht sich als tolerantes Einwandererland. Präsidentin Cristina Kirchner, die eine Schwäche dafür hat, andere zu schulmeistern, liebt es, den Europäern Lehren über den Umgang mit Einwanderern zu erteilen. Gerne übersieht man hier, dass die Einwanderungsgeschichte inzwischen etwas in die Jahre gekommen ist. Die großen Einwandererwellen liegen zwischen 120 und 60 Jahren zurück. Und die damals noch junge, ungefestigte Nation erwartete von ihren Immigranten eine Anpassung an die spanisch-katholische Leitkultur, an die im heutigen Europa nicht zu denken wäre. Alle Vornamen mussten hispanisiert werden. Wer sein Kind Karl oder Heinrich nennen wollte, landete bei Carlos und Enrique. Deshalb gibt es in Argentinien so viele Menschen mit Nachnamen wie Müller oder Bunge und spanischen Vornamen. Man stelle sich vor, die deutschen Behörden verlangten von türkischstämmigen Bürgern, dass sie ihr Kind Martin statt Feiredun nennen. Es gäbe wohl, zu Recht, einen Aufruhr. Das italienische Kulturinstitut von Buenos Aires beklagt, dass so wenige Portenos Italienisch sprächen, obwohl nahezu die Hälfte aller Argentinier italienische Vorfahren habe. Die mitgebrachte Sprache zu bewahren gelang nur wenigen, denn es wurde zu keiner Zeit gefördert.

Jüngere Einwanderung oder besser Arbeitsmigration gibt es in Argentinien nur aus Nachbarländern wie Bolivien und Peru. Die von dort kommen, sind so katholisch wie die große Mehrheit der Argentinier und sprechen ebenso Spanisch. Dennoch werden sie häufig über die Schulter angesehen. Heute wandern Argentinier eher selbst ab, nach Brasilien, das Argentinien wirtschaftlich immer mehr abhängt oder nach Spanien. Nicht von ungefähr lebt nur einer der Spieler in der argentinischen Fußballnationalmannschaft in seinem Heimatland. Alle anderen verdienen ihr Fußballerbrot im Ausland.

Eine Gruppe von Menschen, die nach Argentinien gar nicht einwandern musste, weil sie schon immer da war, lebt in ihrem eigenen Land vielfach wie im Exil, an den Rand gedrängt, geographisch und sozial marginalisiert- die Indios.