Die Suche nach Platons Atlantis hat nie aufgehört.
Dabei lässt sich mindestens seit den 70er-Jahren des 20.Jahrhunderts die Lage
des Ortes ganz exakt beschreiben: 33° 34´ S 18° 29´E sind die Koordinaten und
die Fläche ist 28 Quadratkilometer. Warum man nicht früher drauf gekommen ist? Keine
Ahnung. Die Suche
auf den Bahamas oder in Florida hätte nicht zum richtigen
Ziel geführt. Aber an der Südspitze Afrikas hätte man fündig werden können,
genauer gesagt 40 Kilometer nördlich von Kapstadt, von der Westküste Südafrikas
ein wenig landeinwärts in die semi-aride Landschaft. Fast 70.000 Menschen leben
dort, davon 85 % Mischlinge (sog.Coloureds) und fast 13 % Schwarze. Sie
sprechen weit überwiegend Afrikaans, sind im Durchschnitt 26 Jahre jung und zu
mehr als 90 % Christen. Doch sie leben nicht in rosigen Verhältnissen, wie man
sich das als klassisch gebildeter Mensch vorstellen könnte.
Eben in den 70er-Jahren hatte die weiße
Apartheid-Regierung in ihrem Rassentrennungswahn den Ort projektiert als
Wohnstadt für 500.000 Coloureds und zur Industrieansiedlung. Allerdings wurden
die Fördermaßnahmen für Firmen schon 1989 wieder abgebaut, sodass die meisten
Fabriken wieder abzogen. 1992 betrug die Arbeitslosenquote 40%, 1996 hatten 56%
der Haushalte keine festen monatlichen Einkünfte und bald waren nur noch 3% der
ursprünglichen Firmenansiedlungen übrig. 2005, als das durchschnittliche
Jahreseinkommen in Atlantis 10.233 Euro betrug, gab es dort 35 identifizierte
Drogenverkaufsstellen und geringfügigt mehr Verkaufsstellen für Alkohol als
Gotteshäuser der verschiedenen Denominationen zusammen, wobei die
Erweckungskirchen den größten Anteil stellen. Die großflächig angelegte Stadt,
immerhin die zweitgrößte nach Kapstadt im Westkap, kam weiter herunter und hieß
bald die „verlorene bzw. vergessene Stadt“, weitgehend abgeschnitten vom
reichen, weißen Kapstadt und gezeichnet von Arbeitslosigkeit, Armut, Alkohol-
und Drogenkonsum, HIV/Aids, Wohnungsnot und Kriminalität.
Bei der Verbrechenshäufigkeit lag Atlantis stets in
der Spitzengruppe der offiziellen Statistik in einem Land, in dem die Gewaltkriminalität
ohnedies zu den höchsten der Welt zählt. Im Jahre 2014 gab es in dem Ort
praktisch ebenso viele Morde wie zehn Jahre zuvor, nämlich 37. Die Zahl der
Sexualdelikte ist geringfügig zurückgegangen auf 101 Fälle, nicht jedoch die
der - bekannt gewordenen- Sexualverbrechen gegen
Kinder.(in ganz Südafrikaerschreckend hoch mit 25.578 registrierten Fällen beispielsweise
in 2000). In einem Bericht des Kinder-Instituts der Universität von Kapstadt
heißt es in diesem Zusammenhang. „Arbeitslosigkeit, zügelloser Alkoholkonsum,
ärmliche, heruntergekommene Umgebung, Verbrechen und Gewalttätigkeit sind weit
verbreitet in Atlantis“ und trügen entscheidend zu sexuellen An- und
Übergriffen auf Kinder bei. Auch die Zahl der an HIV/Aids Erkrankten ist hier
höher als vielerorts. Schwerer Raub, Brandstiftung und vor allem Delikte im
Zusammenhang mit Drogenhaben gegenüber früheren Jahren deutlich zugenommen, wobei
letztere 2014 mit 1.669.Fällen dreimal so hoch waren wie 2004. Dieselben Gangs
wie in den Townships um Kapstadt treiben ihr Unwesen auch in Atlantis. In
Atlantis waren mehr Personen
Wohnblöcke in Atlantis
stellungslos als in Lohn und Brot. 14 Kilometer
vom Ort entfernt steht das einzige Kernkraftwerk Südafrikas. Einer der
Ortsteile heißt ganz offiziell „Witsand Informal“, wo in einer wilden Siedlung rund
5.000 Menschen auf 0,62 Quadratkilometern in selbst errichteten schäbigen
Hütten leben. Eine Überschrift des Internetdienstes West Cape News vom 29.Dezember
2014 lautet: „Mann stirbt, 150 obdachlos nach Atlantis-Brand“. 50 Hütten waren
abgebrannt und die Nachbarn stocherten in der Asche nach Brauchbarem. Soweit,
so schlecht. Seit 2006 hat sich in Atlantis eine Gruppe gebildet, die
Gewaltvorbeugung zum Ziel hat und unter anderem „Konfliktlösungen zur
Verhinderung von Schusswechseln“ anstrebt.
Natürlich fiel dieser desolate Zustand mit der Zeit
auch den Politikern auf, jenen in der ANC-Zentralregierung in Pretoria sowie
der Provinzregierung im Westkap und im Rathaus von Kapstadt, die beide von der
oppositionellen Democratic Alliance gestellt
werden. Pläne wurden erarbeitet, Versprechen gemacht, in deren Gefolge sich
immerhin einige Veränderungen zum Besseren ergeben haben oder noch ergeben
sollen. 2013.gelang es, das chinesische Unternehmen Hisense mit
Fertigungsstätten in China, Ungarn, Ägypten Algerien und Frankreich zu
interessieren. Seither hat dieses Unternehmen in Atlantis 350 Millionen Rand
investiert und produziert dort auf gut 25.000 Quadratmetern Fläche
Fernsehgeräte und Kühlschränke; das bedeutet neben Ausbildungsprogrammen
vorerst 300 Arbeitsplätze, die auf 1.200
Teilnehmer an der Western Cape Entrepreneurexpo aus Atlantis
aufgestockt werden sollen. Auch die
Ansiedlung einer spanischen Fabrik ist angekündigt, die Masten für Windturbinen
herstellen und 20 Millionen Euro investieren will, um schließlich 200 weitere
Stellen zu schaffen. Das veranlasste die Regierung des Westkaps zu der
öffentlich verlautbarten Hoffnung, die Region um Atlantis könne Mittelpunkt
von. Firmen der „grünen Ökonomie“ werden. Und Patricia de Lille, die
Bürgermeisterin von Kapstadt, ließ sich nicht lumpen mit der Vermutung,
Atlantis sei auf dem Wege der Wiedererstarkung, ließ indes auch einen neuen,
aktualisierten Plan für die Entwicklung von Atlantis und Umgebung folgen.
So könnte, wenn alles gut geht oder gar noch ein
bisschen besser, Atlantis, die verlorene Stadt, künftig wieder auftauchen aus
der Versenkung der Vergessenheit, so, wie Platon es beschrieben hat als
„glorreich und gesegnet“, „gerecht und wundervoll“ in seiner „barbarischen
Herrlichkeit“, wo die Menschen „alles außer der Tugend verachteten“. Bis dahin,
allerdings, wird wohl die Suche nach Atlantis weitergehen.
Gast-Blogpost von Klaus Stadtmüller
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