20. Mai 2010

Die Hauptstadt der Bücher

Jeden Morgen habe ich die Qual der Wahl. An fünf Zeitungskiosken in meiner nächsten Nachbarschaft kann ich mein Leibund Magenblatt kaufen. Aber nicht nur das. Einige warten auch mit Büchern auf. Darunter ist so schwere Kost wie »Psychoanalyse in der Krise«. Auch in der Rushhour quetschen sich Porteños, wie sich die Bewohner von Buenos Aires nennen, mit der Nase im Buch in die UBahn oder den Omnibus.

Keiner weiß wohl genau, wie viele Buchläden es in der Elf-Millionen-Metropole gibt. Der Broadway von Buenos Aires,die Vergnügungsund Theatermeile an der Avenida Corrientes mitten im Zentrum, ist auch das Eldorado der Buchjäger. Eine Buchhandlung reiht sich in einigen Straßenblöcken an die andere. Schulter an Schulter reiben sich große Läden wie Ghandi mit kleinen Bücherschluchten, die oft nicht viel mehr als ein zur Straße offener Korridor sind, vollgestopft mit einem krausen Gemisch von Secondhandund Erbauungsbüchern.

Der Büchertempel Ateneo an der Avenida Santa Fé, vom gleichnamigen Verlag betrieben, hat es in einer Liste des »Guardian« unter die zehn schönsten Buchhandlungen der Welt gebracht. In dem ehemaligen Theater stehen die Bücherregale auf drei Etagen vornehm in mit Putten geschmückten Logen.

Die beiden großen Zeitungen »La Nación« und »Clarín« bringen wöchentlich eine dicke Beilage heraus, die hauptsächlich der Literatur gewidmet ist. Wer einmal die jährliche Buchmesse, eine Publikumsund Verkaufsmesse, erlebt hat und in die Massen von Besuchern, die bis in die Abendstunden herbeiströmen, eingetaucht ist, glaubt sich auf einer Mischung aus Grüner Woche und Jahrmarkt.

Seit zwei Jahren gibt es die Lange Nacht der Bücher. Dann wird die Avenida Corrientes, die wahrlich keine Kleinstraße ist, einfach abgesperrt, und man kann bis Mitternacht in den Buchhandlungen stöbern, sich gemütlich auf einem Stuhl auf der Fahrbahn niederlassen und schmökern.

Dennoch klagen die argentinischen Kulturpäpste, das Lesen gehe zurück. Ist das nur professionelle Stimmungsmache? Wohl nicht, denn laut einer Statistik von PricewaterhouseCoopers, die weltweit Ausgaben für Bücher vergleichend aufgelistet hat, von »La Nación« im Oktober 2009 für Südamerika veröffentlicht, liegt Argentinien mit 22 Pesos oder ca. sechs Euro pro Kopf und Jahr noch hinter seinen Nachbarländern. Es sieht also mit dem Lesen tatsächlich gar nicht so rosig aus, wie es den Anschein hat.

Doch vielleicht sind Porteños nur sparsam und lesen die Bücher vom Freund mit oder kaufen billig secondhand. Ich glaube eher dem, was ich sehe. Jedenfalls gehört das Buch hier noch zum guten Ton. Kein Intellektueller, der etwas auf sich hält, würde sich im Freizeitlook in seinem Garten ablichten lassen. Er sitzt stets vor seiner gut gefüllten Bücherwand.

Vor Jahren besuchte mich ein belgischer Künstler, der als Kunstprojekt Menschen in allen möglichen Ländern vor ihren Büchern fotografierte. In Buenos Aires wäre das wohl ein Endlos-Projekt geworden.

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