Während ich dies schreibe, schmettert ein Tenor über den Kongressplatz die argentinische Nationalhymne: Hört den heiligen Schrei, Freiheit, Freiheit, Freiheit! Der Kongress selbst ist strahlend in den Landesfarben blau, weiß und Gold beleuchtet. Endlich sind die ersehnten vier Festtage angebrochen. Alle, die es nicht vorgezogen haben, die freien Tage zu einem Kurzurlaub zu nutzen, strömen auf die Avenida 9 de Julio. Am Freitag abend hat die Präsidentin am Obelisken die Zweihundertjahrfeier eröffnet. Die eher unbeliebte erste Dame der Nation trumpfte mit dem Ausspruch auf, Gott habe sie dazu ausersehen, dieses Bicentenario auszurichten. Nicht Gott hat sie eingesetzt, sondern ihr Mann, wurde gewitzelt, ist Cristina Kirchner doch ihrem Gatten Nestor Kirchner im Amt gefolgt, damit die Pfründe in der Familie bleibt. Nächstes Mal will er wieder antreten. Die, soweit nicht längst ausgerotteten, überall an den Rand gedrängten Indios denken über Gottes Hand wohl etwas anders. Sie waren aus den fernsten Landesteilen zu einem Protestmarsch in die Hauptstadt gekommmen, um ihre Rechte einzufordern: mehr Land, bessere Erziehung sowie Gesundheitsversorgung und vor allem Bewahrung ihrer Kultur und ihrer Sprachen. Doch: Egal wie sehr ihnen die gegenwärtige Politik stinkt, 82% aller Argentinier sind einer Umfrage zufolge stolz auf ihr Land.
Gestern zogen sie alle an der Haupttribüne mit den Honoratioren vorbei. Die Abgesandten der 23 argentinischen Provinzen marschierten, sangen, tanzten, trompeteten, trommelten, fuhren auf geschmückten Wagen. Soviel geballte, freudige und farbige Folklore kann man selbst in Argentinien, wo Volksmusik und Volkstanz hochgehalten werden, selten sehen. Aus Corrientes kamen die gutgebauten Mädchen mit ihren Glitzerbikinis und Federschmuck und zeigten, dass der Karneval im Gebiet der großen Flüsse im Nordosten fast so farbig und lebendig ist wie in Brasilien. Aus dem Chaco, dem wilden, heißen Norden, kamen die Gruppen der Einwander in ukrainischen, russischen und italienischen Trachten, aus Chubut einige Indios und aus Entre Rios Freizeitsoldaten in historischen Uniformen aus der Zeit der Befreiungskämpfe.
Kinder saßen bei ihren Vätern auf den Schultern und schwenkten blau-weisse Fähnchen. Bei den fliegenden Händlern gab es Empanadas und die süssen, fettigen Churros zu kaufen. Zum Schluss, schon tief in der Nacht, überstahlte ein Feuerwerk den Festtrubel in allen Farben.
Argentinien hat Geburttstag. Zweihundert Jahre jung ist es geworden. Herzlichen Glückwunsch!
Fotos: La Nación, 22.5.2010
24. Mai 2010
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